Im Land der Extreme
Unser Russland-Bild ist geprägt von Klischees. Aber sind Russen tatsächlich ungehobelt und verschlossen? Ist ihr Lebensstil dekadent? Und muss man mit ihnen wirklich ständig Wodka trinken? Miss Moneypenny hat bei einer Russland-Expertin nachgefragt.
Wieso lächelt hier eigentlich niemand? Das haben sich schon viele Reisende in Moskau, Sankt Petersburg oder Jekaterinburg gefragt. Martina Heuberger vom Intercultural-Consulting-Dienstleister Ostbüro in Bern kann das erklären. Sie leitet Kurse für Unternehmen und an Hochschulen zu Kooperationen mit Russland. «Russen neigen zu einer Alles-oder-nichts-Mentalität, sie sind keine Freunde von Zwischentönen. Entweder man lacht herzlich oder eben gar nicht. Lächeln wird als vorgetäuscht und unverbindlich empfunden.»
In persönlichen Gesprächen würden sie auch kaum Höflichkeitsfloskeln benutzen, auch nicht im geschäftlichen Kontext. «An einem Arbeitsplatz, an dem viele Mitarbeiter vor Ort sind, wird dann auch nicht jeder gegrüsst, das ist einfach nicht Usus.» Die russische Sprache nutze oft die Befehlsform, die in ausländischen Ohren schroff klinge, «auch wegen der Intonation», weiss Heuberger. Auch wenn es nicht unfreundlich gemeint sei, wenn ein Russe zum Beispiel an der Hotelrezeption einfach nur sage: «Geben Sie mir ein Zimmer», oder in einem vollen Bus: «Gehen Sie zur Seite.»
Blumig und ausufernd
Mit der russischen Schriftsprache wiederum verhält es sich ganz anders. Sie wirkt sehr blumig und ausufernd. Daher seien E-Mails von russischen Absendern eher überförmlich als zu zurückhaltend formuliert, berichtet die Expertin.
An diese sprachlichen Unterschiede sind sich viele Schweizer Unternehmer vermutlich bereits gewöhnt. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und Russland sind traditionell stark und umfangreich. Daran änderte auch der Ukraine-Konflikt kaum etwas: Die Schweiz hat bisher auf eigene Sanktionen gegen Russland, wie sie die EU eingeführt hat, verzichtet. 2014 feierte man das 200-jährige Jubiläum der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen der beiden Länder.
Die Arbeitsweise russischer Unternehmen bezeichnet Martina Heuberger als «kreativ.» Man sei es gewohnt, dass sich Rahmenbedingungen schnell ändern können. Deshalb sei die ganze Lebens- und Arbeitsweise auf sehr kurzfristige Planung ausgelegt. «Wenn es schon seit Längerem geplante Termine gibt, sollte man rechtzeitig nachfragen, ob diese noch gelten, weil sie sonst als hinfällig betrachtet werden.» Das bedeute aber auch, dass man davon ausgehen könne, dass russische Geschäftspartner flexibel reagieren können. Das gelte insbesondere für russische Assistentinnen: «Sie verfügen über ein grosses organisatorisches Talent und sind wichtige Ansprechpartnerinnen.»
Mit Frauen im Beruf geht man in Russland traditionell sehr selbstverständlich um. «Dass eine Frau Vollzeit arbeitet, auch nach dem Kinderkriegen, ist normal, ebenso wie die Fremdbetreuung der Kinder.» Bei persönlichen Treffen erhalten Frauen aber eine Sonderbehandlung. «Während unter Männern zur Begrüssung ein Händedruck üblich ist, wird Frauen eher nicht die Hand gegeben. Frauen untereinander begrüssen sich meist durch einen Blick und vielleicht eine angedeutete Verbeugung», hat Martina Heuberger beobachtet.
Ein bisschen Protz gehört dazu
Trotz der allgemeinen Zurückhaltung mit Herzlichkeiten sei es in Russland üblich, dass sich Männer Frauen gegenüber sehr galant verhielten. «Üblich sind viele Komplimente, die Tür aufhalten, die Tasche tragen – das geht manchmal so weit, dass man sich ein bisschen unselbstständig fühlt», meint Martina Heuberger schmunzelnd. Eine grosse Rolle spielt in Russland der Weltfrauentag am 8. März. An diesem Tag werden die Russinnen nicht nur von ihren Partnern und Kindern beschenkt, sondern auch am Arbeitsplatz gefeiert. Diesen Tag können auch ausländische Firmen zum Anlass für die Kontaktpflege nehmen, indem sie etwa russischen Geschäftspartnerinnen eine Glückwunschkarte zusenden.
In Russland möge man es ein wenig extravaganter – das stimme schon, erklärt Martina Heuberger: «Was manchen Schweizern als übertriebenes Aufschneidertum erscheinen mag, wird in der russischen Gesellschaft ganz anders interpretiert.» Statussymbole gehörten einfach dazu, angefangen bei teurer Garderobe über das Chauffiertwerden in der Limousine bis zum opulenten Geschäftsessen mit Abendprogramm.
Bei geschäftlichen Einladungen werde buchstäblich aufgetischt, «dass sich der Tisch biegt»: Zuerst eine grosse Auswahl an Vorspeisen, dann mehrere Gänge, die vor allem viel Fleisch beinhalten. «Vegetarier sind hier Exoten, die man nicht so recht versteht.» Russische Besucher seien bei Einladungen in die Schweiz auch eher mit Reichhaltigem zu begeistern als mit exquisiten, aber überschaubaren Portiönchen à la Nouvelle Cuisine.
Ist man der oder die Eingeladene, empfiehlt sich als Gastgeschenk etwas Typisches aus dem Heimatland – allerdings nicht unbedingt ein Schweizer Sackmesser: «In Russland gibt es einen Aberglauben, nach dem man keine spitzen Gegenstände verschenken darf, weil das Unglück bringt», weiss Martina Heuberger.
Wodka begiesst Erfolge
Und wie läuft es nun mit dem Wodka? «Na ja, beim gemeinsamen Essen gehört er schon dazu», sagt die Expertin. «Eingeläutet wird jede Runde mit einem Trinkspruch. Der Gastgeber macht den Anfang, er hält meist eine ganze Rede. Es folgt ein Trinkspruch des Zweiten in der Hierarchie auf das Wohl des Gastgebers, danach kann man zum Beispiel auf gute Zusammenarbeit trinken oder auf bereits erzielte Erfolge.» Von anwesenden Frauen, beruhigt Martina Heuberger, werde beim Wodkatrinken allerdings nicht unbedingt erwartet, dass sie mithielten. «Sie können auch auf Wein ausweichen oder auf Nichtalkoholisches.»
Das ungezwungene Beisammensein ist in Russland für die Geschäftsbeziehung sehr wichtig. Die gemeinsamen Essen nehmen deshalb meist viel Zeit in Anspruch. «Das sollte man nicht als unnötige Zeitverschwendung ansehen, sondern sich darauf einlassen», rät die Expertin. Dass die Chemie untereinander stimme, sei ein wichtiges Kriterium für eine stabile Geschäftsbeziehung. Denn: «Russen unterscheiden sehr stark, was öffentlich und privat ist. Deshalb lächelt man auch keine Fremden an.»
Arbeiten mit Russland – so klappt's
- Flexibilität und Spontaneität sind die Stärken der Russen – das sollte man zu nutzen wissen.
- Kurzfristig planen, langfristig geplante Termine kurz vorher bestätigen lassen
- Höflichkeit läuft nach anderen Regeln: Entweder man ist sehr distanziert – oder sehr nah.
- Höflichkeitsfloskeln sind in der gesprochenen Sprache unüblich, die Schriftsprache dagegen ist sehr blumig.
- Geschäftsessen werden in Russland sehr opulent gestaltet – das erwartet man auch von der Gegenseite.
- Aberglaube ist weit verbreitet, z. B. keine Begrüssung zwischen Tür und Angel, sondern erst nach dem Eintreten; nichts verschenken, das spitz oder scharf ist (z. B. Schweizer Sackmesser); Blumensträusse müssen eine ungerade Zahl von Blumen beinhalten.
- Am Weltfrauentag am 8. März werden in Russland die Mitarbeiterinnen gefeiert – oft haben sie (oder die gesamte Belegschaft) an diesem Tag frei.