Was zeichnet die Nachhaltigkeit einer veganen Zukunft aus?
Eine vegane Gesellschaft als Zukunftsutopie schildert der Schweizer Futurist Joël Luc Cachelin in seinem neusten Buch «Veganomics». Ein Gespräch über Veganismus-Vorurteile, vegane Errungenschaften und darüber, warum ein veganer Lebensstil auch zu mehr Nachhaltigkeit beiträgt.
Foto: Maximilian Lederer
«Veganomics» ist eine Zukunftsutopie und zeigt auf, wie eine komplett vegane Gesellschaft funktionieren könnte. Was war Ihr Antrieb als Zukunftsforscher, sich dieser Thematik anzunehmen?
Joël Luc Cachelin: Mein Interesse entstand während der Pandemie. Einerseits begann ich, mit einer Nachbarin Hühner zu halten und mich dadurch für das Lebewesen Huhn zu sensibilisieren; ich ernährte mich zu diesem Zeitpunkt seit langem vegetarisch und wollte durch mein neues Wissen noch konsequenter auf tierische Produkte verzichten. Andererseits hatte ich in der Pandemie das Buch «Antikörper» veröffentlicht, in dem ebenfalls das Verhältnis von Mensch und Tier im Vordergrund stand. Das sind beides primär persönliche Gründe. Als Zukunftsforscher interessieren mich vor allem die Technologien und die Märkte einer veganen Zukunft.
Alle sprechen von Nachhaltigkeit: Was zeichnet die Nachhaltigkeit einer veganen Zukunft aus?
Eine vegane Ernährung verlangt eine viel weniger intensive Landwirtschaft. Das offensichtlichste Argument dabei: Das ganze Futter für die Nutztiere muss nicht mehr hergestellt werden. In einer veganen Zukunft fallen zudem die Treibhausgase weg, die von Wiederkäuern verursacht werden. So gehen je nach Berechnung bis zu 20 Prozent aller Treibhausgase auf die Nutztierhaltung zurück. Das ist ein Vielfaches von dem, was durch den globalen Flugverkehr entsteht (knapp 2 Prozent).
Fakt ist: In der Schweiz und in Deutschland bezeichnen sich gerade einmal 2 Prozent als vegan Lebende – und hier sprechen wir nur von der Ernährung. Was hält so viele von einem veganen Leben ab?
Da sind sicher Vorurteile im Spiel. Aber auch kulturelle Faktoren spielen eine Rolle. Es gibt Gewohnheiten, die vorgeben, was man an Weihnachten oder an Ostern isst. Ein Fleischgericht besitzt zudem für viele mehr «Wert» als eines, das nur aus Gemüse, Wurzeln und Getreide besteht. Auch Genderfragen spielen eine Rolle. Fleisch und Blut gelten nach wie vor als männlich.
In welchen Ländern klappt es schon besser und woran liegt das?
Einfacher haben es Länder, in denen die kulinarische Kultur wenig von tierischen Produkten abhängig ist oder in denen es Religionen gibt, die tierische Produkte ablehnen. Wichtiger als der Vergleich der Länder scheint mir jedoch der Stadt-Land-Unterschied. Sich vegan zu ernähren, ist sicherlich am einfachsten in Grossstädten. Dort ist man aufgeschlossener gegenüber neuen Ideen und hier gibt es vor allem viele junge Menschen, für die diverse Esskulturen selbstverständlich sind.
… das Bild des Karnivoren (Fleischessers) hält sich dennoch in den Köpfen der Gesellschaft. Wie bringt man es wieder aus ihnen heraus?
Indem man aufklärt bezüglich der Vorteile einer veganen Ernährung oder der Nachteile einer Landwirtschaft, die stark auf tierische Produkte setzt. Wichtig ist auch das persönliche Interesse für das Essen und Kochen, aber auch für das Einkaufen von Lebensmitteln. Und es spielt natürlich eine Rolle, welche veganen Alternativen es in Restaurants, Mensen und Bäckereien gibt.
Was sind die grössten Vorurteile hinsichtlich einer veganen Gesellschaft?
Da gibt es einige… beispielsweise, dass eine vegane Ernährung teuer ist oder aufgrund des Veganismus Regenwald geholzt wird, damit man Soja anpflanzen kann. In Wahrheit werden drei Viertel des Sojas an Tiere verfüttert. Ich denke, das wichtigste Vorurteil ist aber, dass eine vegane Ernährung ungesund sei und zu einer körperlichen und geistigen Schwächung führe.
Welche veganen Alternativen sehen Sie als grösste Errungenschaften?
Eine spannende Entdeckung war für mich das Wasser von Kichererbsen, das man als Eiweissersatz verwenden kann, beispielsweise für ein Schoggimousse. Mit Leinsamen und Chiasamen kann man Eier beim Backen ersetzen. Häufig sind es unspektakuläre Dinge wie Pflanzen, Gemüse, Pilze und Algen, die man essen kann. Top-Restaurants machen vor, wie unheimlich gut veganes Essen ist und dass es für Gault-Millau-Punkte weder Fleisch noch Fisch braucht. Bei der Kleidung gibt es zudem Potenzial mit Brennnesseln, Hanf und Leinen.
Inwiefern widersprechen Sie Menschen, die sagen: «Was können wir als ‹kleine› Schweiz da tun?»
Die Schweiz hat zwei Exportprodukte, die auf tierischen Produkten basieren, Käse und Schokolade. Hier könnte man noch mehr eine Vorbildfunktion einnehmen und diese beiden Produkte vegan neu erfinden. Ausserdem braucht eine vegane Zukunft viele technologische Erneuerungen, die global skalierbar sein müssen. Hier kann die Schweiz forschen und finanzieren, etwa an vollautomatischen Algen- und Insektenfarmen, an Laborfleisch oder an Bioreaktoren, um Eiweisse ohne Tiere herzustellen. Auch altes Wissen zu erforschen, ist nicht uninteressant, etwa über alte Nutzpflanzen und Zubereitungsformen.
Gibt es auch Herausforderungen, denen sich die utopische Gesellschaft «Vegania» stellen muss?
Es gibt sicherlich interessante Zielkonflikte. Was passiert, wenn man die Wolle der Schafe nicht mehr nutzt? Braucht man noch mehr Plastik? Oder wie viele Affen werden zwangsgehalten, um die vielen Kokosnüsse für die Veganerinnen und Veganer zu ernten? Würde es in einer komplett veganen Gesellschaft Schwarzmärkte für illegales Fleisch geben? Wie stellt eine vegane Gesellschaft die Kontrolle der Blutwerte sicher und sorgt für den Vitamin-B12-Ersatz? Und wie sieht es mit dem Ressourcenbedarf einer veganen Gesellschaft aus, in der die Menschen gesünder essen und deshalb älter werden?
… und: Bleibt es eine Utopie?
Utopien sind Hilfsmittel, die nie eins zu eins Realität werden. Umgekehrt ist die vegane Utopie für viele Menschen schon eine Realität und die Wachstumszahlen von vegetarischen Restaurants und Fleischersatzprodukten zeigen, wie gross das Potenzial einer veganen Zukunft ist.
Buchtipp
Veganomics
Joël Luc CachelinWir befinden uns auf einer idyllischen, wenn auch fiktiven Inselgruppe. Niemand hält hier mehr ein Tier gegen den Willen des Tieres fest, niemand verkauft die Rohstoffe eines getöteten Tiers. Die Landwirtschaft funktioniert genauso wie die Forschung, die Bekleidungs-, die Kosmetik- und die Nahrungsmittelindustrie völlig tierlos. Vegania ist total vegan. Nun möchte Karnivoria nachziehen und fragt Vegania um Rat: Wie kann eine völlig andere Gesellschaft gelingen, wie funktioniert die Abkehr von tierischen Produkten und wie prägt dies die Gastronomie, die Nahrungsmittelindustrien und die Landwirtschaft? Ein spannendes Wissenschaftsexperiment, das Joël Luc Cachelin in diesem Buch über die Möglichkeiten der nutztierfreien Gesellschaft mit sprachlicher Raffinesse und wissenschaftlicher Expertise untermauert.
Hirzel Verlag, 2023, 240 Seiten