«Wir brauchen Vorbilder»
Wie Führung sich verändert, welche Kompetenzen Chefs künftig benötigen und wo Potenzial brachliegt, erläutern der Schweizer Futurist Joël Luc Cachelin und der deutsche GenZ-Unternehmer Paul von Preussen.
Joel Luc Cachelin (l.) und Paul von Preussen. (Bild: zVg)
Trotz selbstorganisierter Teams und Holacracy wird viel über Führung gesprochen. Doch braucht es diese überhaupt noch? Ja, meint der Schweizer Futurist Joël Luc Cachelin: «Wir brauchen Vorbilder, die für Ideen kämpfen und andere begeistern, die Entscheide treffen und bereit sind, Konsequenzen vorwegzunehmen und Verantwortung dafür zu übernehmen, und die anderen aufzeigen, wie sie sich entwickeln und verbessern können.» Eine andere Frage ist die Definition des Begriffs «Führung». Für Cachelin ist die wichtigste Führungsaufgabe, Veränderungsprozesse zu gestalten, die sich «in der Veränderung immer wieder verändern». Das sei anstrengend und unübersichtlich.
Zum Idealbild einer Führungskraft 4.0 gehören deshalb die ausgeprägte Fähigkeit der Selbstreflexion und die Erkenntnis, nicht alles zu wissen. Anders gehe es nicht: «Die Veränderungen der Arbeitswelt sind immens.» Beispielsweise durch die stärkere Bedeutung von Ideen beziehungsweise die Ausrichtung der Unternehmenskultur an Kreativität. «Dieser Trend verstärkt sich durch die jüngsten Fortschritte von künstlicher Intelligenz, die scheinbar alles weiss: etwa ChatGPT.» Führungskräfte würden zudem innerhalb und ausserhalb immer mehr zu Influencerinnen und Influencern, die interne Potenziale und externe Erfordernisse miteinander abstimmen. Hinzu komme die omnipräsente junge Generation, die den Wandel des Führungsverständnisses vorantreibe. «Dabei geht es nicht nur um die GenZ, sondern auch um die GenY, die in den Hierarchien immer höher klettert.»
Eine Führungskraft muss dazu beitragen, dass sich Arbeitnehmende entfalten.
Dieser Wandel prägt die Vorstellung von Führung. Für das 21. Jahrhundert brauche es ein Führungsverständnis, das der Kreativität, aber auch den Gefühlen mehr Platz einräume, sagt der Schweizer Futurist. Firmen müssten sich von der Teamarbeit weg zur synchronisierten Einzelarbeit hin bewegen. «Teamarbeit sollte nicht mehr so verherrlicht werden», sagt Cachelin. «Unternehmen müssen Mitarbeitenden deshalb ermöglichen, sich in ein Themengebiet zu vertiefen und sich auf die Arbeit zu konzentrieren.» Zuletzt verändere sich auch die Rolle der Führungskräfte bei der Informationsvermittlung. «Es geht weniger darum, etwas weiterzuleiten, als vielmehr darum, Informationsflüsse am Leben zu halten und die richtigen Entscheidungsprozesse aufzusetzen.»
Mehr Feedbackkultur
Fragt man die «junge» Generation nach gewünschten künftigen Führungsstilen, ist für den deutschen GenZ-Unternehmer Paul von Preussen eines klar: «Hierarchische Strukturen und der klassische Stil ‹Ich bin der Boss› funktioniert bei der jungen Generation nicht mehr, weil wir das nicht mehr gewohnt sind.» Heute sei der Boss als Coach gefragt. «Eine Führungskraft muss unterstützen und dazu beitragen, dass sich Arbeitnehmende entfalten. In Umfeldern, die sich heutzutage schneller denn je verändern, ist das eine grössere Herausforderung als noch vor zehn Jahren.» Stärken zu stärken, sei dabei die wichtigste Vorgehensweise. «Am Ende kann sich eine Organisation nur entfalten, wenn jede und jeder Einzelne es selbst tut.»
Hinzu käme die Kommunikation. «Die GenZ möchte keine einmaligen Jahresgespräche mehr – sie gehören längst abgeschafft –, sondern eine permanente Feedbackkultur.» Der Wunsch, ständig beurteilt zu werden, stamme aus den sozialen Medien. «Ich poste etwas und bekomme unmittelbar positive oder negative Rückmeldungen.» Fände diese Gewohnheit keinen Eingang in die Arbeitswelt, fühle sich die Generation unwohl, nicht beachtet. «Lieber möchte ich sofort eine Rückmeldung erhalten, wenn ich etwas falsch gemacht habe, als zwölf Monate später, wenn ich schon lange nicht mehr daran denke.»
Kommunikation ist auch für den Schweizer Futuristen Joël Luc Cachelin ein Schlüssel für den Führungserfolg. Die neue Art des Führens müsse jedoch zur Aufgabe und zum Gegenüber passen. «Soll Führung funktionieren, braucht es gegenseitiges Verständnis, gegenseitigen Respekt sowie Empathie und Selbstreflexion.» So oder so: «Künftige Führung bewegt sich in einem dauernden Spannungsfeld.» Anspruchsvoll sei, das richtige Mass von Freiheit und effizienter Organisation zu finden. «Wie viele wöchentliche Absprachen braucht es und wer muss dazu vor Ort sein?» Weitere Spannungsfelder seien auch der Umgang mit verschiedenen Generationen, deren Mindsets, agile und statische Organisationseinheiten und der Widerspruch zwischen Stabilität und Innovation.
Vom Sinn und von Kompetenzen
Spricht man über Führung, kommt häufig die Sinnfrage. Doch sind Führungskräfte dafür verantwortlich, dass Menschen durch Arbeit einen Sinn finden? «Nein», sagt Cachelin, «Führungskräfte können aber Hand bieten, indem sie soziale Situationen sowie Anlässe und Erlebnisse schaffen, aber auch Entwicklungsprozesse und Produkte sichtbar machen. Das ist nicht immer so einfach wie in einem Produktionsbetrieb, wo man Prototypen entwickelt.» Auch für Unternehmer Paul von Preussen sind nicht die Führungskräfte für das «why» zuständig, sondern die Arbeitnehmenden. «Besitze ich einen inneren Kompass, ist es für mich einfacher, den Sinn auch in einer Organisation zu finden.» Vorgesetzte sollten ihre Mitarbeitenden jedoch fragen, wo sie ihren Sinn sehen. Das geschehe viel zu selten: «Führungskräfte geben zu viele Antworten und fragen zu wenig, dabei sollten Vorgesetzte wissen, was Mitarbeitenden wichtig ist und weshalb sie tun, was sie tun.»
Zuhören und nachfragen sind zeitlose Führungsqualitäten. Doch was ist heute anders als gestern? «Grundsätzlich sind die Führungskompetenzen die gleichen wie früher», sagt Paul von Preussen. «Heute geht es aber weniger um Führen nach Zahlen als um das Führen von Menschen.» Auch Empathie und Soft Skills spielen eine viel grösseren Rolle als noch vor 20 Jahren. Zu den wichtiger werdenden Führungskompetenzen gehört für Joël Luc Cachelin auch die Trennungskompetenz. Dies nicht nur im Sinne, sich von Menschen zu trennen. «Langfristig innovativ ist, wer sich von alten Ideen und früheren Errungenschaften trennen kann. Das gilt für Produkte und Unternehmensprozesse, aber auch für uns selbst.» Das ständige Trennen von alten Ideen sei jedoch anstrengend, weil man nie mehr irgendwo ankomme und immer auf der Suche sei. «Wer diese Reise als Abenteuer interpretiert, wird eine gefragte und inspirierende Führungskraft sein.»
Ungenutztes Potenzial
Mit Blick auf das Führungs- und Managementverständnis der Schweiz sieht Joël Luc Cachelin noch viel Potenzial. «Die Führung ist zu konservativ: Viele halten an einer alten Steuerungslogik von Unternehmen mit altmodischen Männer-, Macht- und Organisationsbildern fest.» Stellvertretend für diese alte Welt sei der kräftige Händedruck, die Sie-Kultur. «Diese Merkmale alter Hierarchien sehe ich als Hindernis auf einem Weg zu einer veränderungsfähigen, diversen und nachhaltigen Wirtschaft.» Über Nachhaltigkeit werde noch zu wenig nachgedacht: «Die digitale Transformation ist im Changemanagement angekommen, die grüne überhaupt noch nicht.»
Verbesserungsbedarf liegt gemäss Paul von Preussen vor allem darin, die Fähigkeiten der Mitarbeitenden besser zu nutzen. «Häufig wissen Vorgesetzte aber nicht, was ihre Mitarbeitenden können.» Beispielsweise, dass sie sich Auftrittskompetenzen durch private Bühnentätigkeiten aneigneten oder Coaching-Kompetenzen durch das Trainieren einer Jugendfussballmannschaft besitzen. Auch beim Halten und Verabschiedung von Mitarbeitenden gäbe es noch viel zu tun. «Führungskräfte müssen Mitarbeitenden Chancen bieten, sich während der Arbeit zu entfalten, und es jenen möglichst leicht machen, die nach ein paar Jahren zurückkehren wollen.» Deshalb die Frage: «Weshalb besitzen so viele Unternehmen kein Alumni-Netzwerk?»
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Erschienen 2019, Springer Verlag, 200 Seiten