Wenn Frauen die Pille absetzen
Die Pille gehört seit Jahrzehnten zu den meistgenutzten Verhütungsmitteln in der Schweiz. Doch der Trend ist rückläufig: Immer mehr Frauen entscheiden sich, die hormonelle Verhütung abzubrechen. Doch welche Auswirkungen hat das Absetzen der Pille auf den Arbeitsalltag?

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«Die Pille beeinflusst weit mehr als nur den Hormonhaushalt», erklärt Olivia Schneider, Masterstudentin im Bereich «Gesundheit und Diversity in der Arbeit» sowie Verfasserin des Forschungsprojektes des «Institute for Women’s Wellbeing at Work». So zeigen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse die Tragweite dieser Entscheidung: Eine Forscherin unterzog sich kürzlich 75 Hirnscans während und nach der Pilleneinnahme und stellte dabei fest, dass sich die Gehirnstruktur messbar verändert. Weitere Studien belegen Einflüsse auf Stressachsen und das sozio-emotionale Verhalten.
«Für den Arbeitsalltag ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen, sei es für sich selbst oder um Kolleginnen besser unterstützen zu können», betont Schneider weiter. «Besonders wenn wir bedenken, dass viele Frauen die Pille über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg einnehmen.»
Überraschende Studienergebnisse
Die Forschungsarbeit, in der 82 Frauen zu ihren Erfahrungen im ersten Jahr nach dem Absetzen der Pille befragt wurden, zeichnet ein vielschichtiges Bild:
- Knapp 64 Prozent gaben an, dass sie ihrer Arbeit wie gewohnt nachgehen konnten, wobei 17 Prozent die Arbeit nach dem Absetzen als leichter empfanden und 17 Prozent von erhöhten Herausforderungen berichteten.
- Ein Viertel der Frauen berichtete von Symptomen, die ihren Arbeitsalltag nicht beeinträchtigten, während ebenfalls ein Viertel unter Beschwerden litt, die sie in ihrer Arbeit einschränkten.
- Bei 29 Prozent der Frauen war die subjektiv wahrgenommene Arbeitsleistung höher als zuvor, 11 Prozent empfanden sie als geringer.
- Nur 11 Prozent liessen sich aufgrund von Beschwerden im Zusammenhang mit dem Absetzen der Pille krankschreiben, wobei weitere 21 Prozent aussagten, dass sie das rückblickend besser gemacht hätten.
«Ein wichtiges Ergebnis für Führungskräfte: Bei den arbeitsrelevanten Auswirkungen handelt es sich nicht um ein Massenphänomen», fasst Schneider zusammen. «Dennoch gibt es eine relevante Gruppe von Frauen, die Unterstützung benötigen kann.»
Vielfältige Herausforderungen im Büroalltag
Die Studie identifiziert verschiedene Bereiche, in denen Veränderungen auftreten können:
- Konzentration und kognitive Leistung
- Energielevel und Müdigkeit
- Emotionale Stabilität
- Körperliche Beschwerden wie Menstruationsschmerzen
- Hautveränderungen wie Akne, die das berufliche Selbstbewusstsein beeinflussen können
Eine Teilnehmerin berichtet: «Nach zehn Jahren Pilleneinnahme musste ich erst wieder neu lernen, mit den Stimmungsschwankungen und Energielevels während des normalen Zyklus im Arbeitsalltag umzugehen.» Eine weitere Studienteilnehmerin sieht auch positive Aspekte: «Ich finde die Veränderung an mir toll! Auch wenn ich meinen Zyklus in der Stimmung nun deutlich wahrnehme und auch meine Leistungsfähigkeit schwankt.»
Eine aktuelle niederländische Studie zeigt ausserdem, dass Frauen unter hormoneller Verhütung emotional stabiler sind, im Durchschnitt jedoch weniger Energie und Freude empfinden.5 Das unterstreicht die Vielschichtigkeit des Themas: Während die Pille für manche eine wichtige Unterstützung ist, erleben andere nach dem Absetzen ein breiteres Gefühlsspektrum, das ihre Leistungsfähigkeit sowohl herausfordern als auch bereichern kann.
Rolle des Arbeitsumfelds
Die Interviews aus der Studie zeigen, wie wichtig ein verständnisvolles Arbeitsumfeld ist. Eine Teilnehmerin, die unter verstärkter Akne nach dem Absetzen litt, berichtet: «Die herzliche Atmosphäre im Team hat mir sehr geholfen, mit den äusserlichen Veränderungen umzugehen.» Eine andere Befragte schätzte besonders die Möglichkeit zum Homeoffice.
Praxistipps für ein innovatives Arbeitsumfeld
- Für eine gesundheitsförderliche Infrastruktur einsetzen
• Ausreichend Zugang zu Sanitäreinrichtungen gewährleisten
• Ruheräume oder Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung stellen - Eine offene Kommunikationskultur unterstützen
• Verständnis für zyklusbedingte Schwankungen schaffen
• Themen der Frauengesundheit aktiv fördern - Flexible Arbeitsmodelle fördern
• Homeoffice-Optionen für schwierige Tage
• Flexible Pausengestaltung ermöglichen
Ein bewusster Umgang mit den natürlichen Prozessen des Körpers und ein Verständnis dafür, wie diese den Arbeitsalltag beeinflussen können, schaffen die Basis für ein zukunftsorientiertes und gesundes Arbeitsumfeld.
Chancen für Unternehmen
«Ein bewusster Umgang mit diesem Thema kann die Arbeitgeberattraktivität deutlich steigern», betont Katharina Eggert vom «Institute for Women’s Wellbeing at Work». Die Organisation setzt sich für besseres Wohlbefinden von Frauen am Arbeitsplatz ein und sieht in der Berücksichtigung verschiedener Lebensphasen einen wichtigen Erfolgsfaktor.
Dabei geht es nicht um spezielle «Post-Pill-Strategien», sondern um eine generell gesundheitsförderliche Ausrichtung des Unternehmens. «Synergien nutzen» lautet das Stichwort: Massnahmen, die Frauen beim Absetzen der Pille unterstützen, kommen auch anderen Mitarbeitenden zugute – sei es in der Menopause oder bei anderen gesundheitlichen Herausforderungen.
Zwischen Sensibilität und Normalität
Auch als Assistenz können Sie eine wichtige Rolle spielen: Schaffen Sie Bewusstsein für das Thema, ohne es zu problematisieren. Die meisten Frauen bewältigen die Umstellung ohne grössere berufliche Einschränkungen. Für diejenigen, die Unterstützung benötigen, können kleine Anpassungen im Arbeitsalltag einen spürbaren Unterschied machen.
Eine Studienteilnehmerin fasst es treffend zusammen: «Ich finde es wichtig, dass gesellschaftlich ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, was die Pille und auch das Absetzen für Auswirkungen auf Beruf und Alltag haben können. Dass man zum Teil nicht in der Lage ist, seinen Beruf wie vorher auszuführen. Und dass man als Frau abhängig von seinem Zyklus ist – und damit auch die Arbeitsleistung.»
Diese Erkenntnisse belegen, wie essenziell ein individueller und informierter Umgang mit hormonellen Veränderungen ist. Eine Grundlage, die sowohl die persönliche Gesundheit fördert als auch ein unterstützendes Arbeitsumfeld ermöglicht.
Übrigens...
Laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik verhüteten 2022 nur noch knapp 16 Prozent der Frauen mit der Pille, verglichen mit 52 Prozent im Jahr 1992.