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Resilienz: Geschlagen, vernachlässigt, Top-Managerin

Nadja Werthmüller war Top-Führungsfrau beim ABB-Konzern und hat eine beein­druckende Karriere hinter sich. Was viele nicht wissen: Diese Karriere basiert auf einer Resilienz, die sie in ihrer schwierigen Kindheit entwickelte – entwickeln musste, um zu überleben. Eine Geschichte über rohe und achtsame Resilienz.

Eine Kindheit im Ausnahmezustand, so könnte man das Aufwachsen von Nadja Werthmüller versuchen zu beschreiben. Es trifft es nicht annähernd. Werthmüller wuchs als Einzelkind bei einer depressiven und alkoholabhängigen Mutter auf, wurde von ihr vernachlässigt und geschlagen. Der Vater war nicht da, die Eltern hatten sich früh scheiden lassen. Weil ihre Mutter nicht in der Lage war, sich um ihre kleine Tochter zu kümmern, musste Nadja das selbst tun. «In sehr jungen Jahren übernahm ich Aufgaben, mit denen Kinder normalerweise nie konfrontiert werden», erinnert sie sich, heute selbst Mutter zweier Töchter. 

Aber nicht nur für sich musste Nadja sorgen, sondern auch für ihre Mutter. Einkaufen, sich um den Haushalt kümmern, aber auch Alkohol und Medikamente für ihre Mutter besorgen, sie zum Arzt begleiten und die Finanzen managen – alles eine grosse Last auf den Schultern eines jungen Mädchens. Doch damit nicht genug. «Dazu kam die physische Gewalt», erzählt Werthmüller. Denn wenn die kleine Nadja die Dinge nicht perfekt erledigte, konnte das «bei meiner Mutter mit ihren Zwangsneurosen eine Reaktion auslösen, deren Konsequenzen für mich unabsehbar waren».

Diese Erfahrungen formten Nadja Werthmüllers «rohe Resilienz» – eine Überlebensstrategie, die ihr half, in einer ständigen Angst- und Stresssituation zu funktionieren. Das hatte jedoch seinen Preis: Sie entwickelte einen inneren Antrieb, perfekt zu sein und Leistung über alles zu stellen. Teilweise trieb sie sich bis zum Kollaps, ging später sogar mit Nierensteinen arbeiten, bis sie vor Schmerzen vom Bürostuhl fiel. «So war eben mein Mindset», sagt sie. Auf der anderen Seite war ihr stets bewusst: «Meine Kindheit hatte mich stark gemacht. So schnell konnte mich nichts umwehen.»

«Rohe Resilienz ist oft das Ergebnis von extremen Lebensumständen», ordnet Markus Renevey ein, Resilienzcoach und Gründer des Swiss Resilience Hub, eines Kompetenzzentrums für Resilienz in Zürich. «Sie ermöglicht es, unter hohem Druck zu funktionieren.» Diese Art von Resilienz bringe grosse Stärke mit sich, könne aber auch eine gefährliche Überlastung zur Folge haben, wenn die Betroffenen ihre Grenzen nicht erkennen würden.

Aufstieg und Erschöpfung

Als Nadja 20 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Ein Ereignis, das sie dazu veranlasste, endgültig nach vorne zu blicken: «Ich gab Gas und fokussierte mich auf meine Karriere», sagt sie. Mit eiserner Disziplin und grossem Engagement steigt sie die Karriereleiter hoch, übernimmt mit nur 23 Jahren ihre erste Führungsposition. Später leitet sie bei der «ABB» als Head of Insurance Risk Management die weltweiten Versicherungsbelange des Konzerns – alles in einem Teilzeitpensum, während sie gleichzeitig Ehefrau und Mutter ist.

«Ich funktionierte einfach», erinnert sich Werthmüller. «Aber ich liebte meinen Job und machte ihn neun Jahre lang mit Freude und Leichtigkeit.» Oft wurde sie gefragt, wie sie das schaffe. «Aber das war meine Stärke: Ich konnte unglaublich viel leisten, ohne zu merken, wie sehr es mich aufzehrte.» Doch nach Jahren des Drucks und der Höchstleistungen gerät ihr inneres Gleichgewicht aus dem Lot. «Über eine schleichende Periode hinweg spürte ich, wie meine Energie und die Freude an der Arbeit zu schwinden begannen», sagt sie. Markus Renevey sieht darin eine typische Folge der rohen Resilienz: «Nadja hatte extreme Fähigkeiten zur Selbststeuerung entwickelt, aber die Selbstwahrnehmung blieb auf der Strecke. Die Balance zwischen Leistung und Erholung fehlte – auf Dauer konnte das nicht gutgehen.»

Der Wendepunkt: Von roher zu achtsamer Resilienz

Die Erkenntnis, dass ihre früheren Muster sie zwar weit gebracht, aber letztlich erschöpft hatten, führte Nadja Werthmüller zu einem Wendepunkt. Sie liess sich coachen und begann, ihre Kindheit und die damit verbundenen Verhaltensweisen aufzuarbeiten. «Ich war es gewohnt, durchzuhalten und immer weiterzumachen», erklärt sie. Dabei habe sie es verpasst, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu respektieren. «Ich musste lernen, Leisten und Erholen in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen.»

So hatte ihre Resilienz ihr zwar geholfen zu überleben, jedoch nicht, auf Dauer glücklich zu sein. Diese Einsicht war der Schlüssel zur Transformation – weg von der rohen, aufs Funktionieren ausgerichteten Resilienz zu einer achtsameren Version davon. «Der Übergang von roher zu achtsamer Resilienz ist ein Prozess», erläutert Resilienzexperte Markus Renevey. «Dieser beinhaltet zum einen Selbstwahrnehmung, sprich, sich der eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Ressourcen und körperlichen Signale bewusst zu werden. Zum anderen braucht es Selbstermächtigung – sich also zu erlauben, für sich selbst zu sorgen und einzustehen. Und dann noch die Selbststeuerung; das heisst, das eigene Denken, die Emotionen und das Verhalten so zu regulieren, dass man das tut, was einem wichtig ist und guttut.»

Heute coacht Nadja Werthmüller selbst Führungskräfte und hilft ihnen, ihre eigene Resilienz zu entwickeln – auf eine achtsame Weise. «Meine Geschichte hat mich gelehrt, dass es nicht nur darum geht, stark zu sein und Leistung zu bringen», sagt sie. «Es ist genauso wichtig, innezuhalten, auf mich selbst zu hören und mich zu fragen: Ist das, was ich tue, wirklich gut für mich?»

Drei Tipps für achtsame Resilienz

  1. In sich hineinhören und das Bauchgefühl ernst nehmen «Wir Menschen sind grundsätzlich kopfgesteuert. Dabei wäre es wichtig, in sich hineinzuhören und hineinzuspüren, was einem das Bauchgefühl sagt», sagt Werth­müller. «Oft ignorieren wir es, dabei gibt es uns wertvolle Rückmeldungen.» «Wer sich selbst gut kennt, kann auch in stressigen Situationen viel eher die richtigen Entscheidungen treffen. Das Wahrnehmen der eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Ressourcen und Ziele ist dafür ein essenzieller Aspekt», bestätigt Renevey.
  2. Energiequellen aktiv pflegen «Identifiziere, was dir Energie gibt, und pflege diese Quellen aktiv», rät Werthmüller. «Bei mir ist es beispielsweise das Spazieren im Wald. Es ist wichtig, sich regelmässig mit Aktivitäten zu beschäftigen, die einem Kraft und Freude spenden.» Markus Renevey: «Für das eigene psychische und physische Wohl sorgen zu dürfen, stärkt die Resilienz. Daher soll man solche Aktivitäten bewusst in den Alltag integrieren. Auch kann man sie in schwierigen Zeiten hervorholen, um die Energie­reserven hochzuhalten.»
  3. Pausen machen und atmen «Der Atem ist ein wunderbares Tool, um sich zu zentrieren und eine Pause ein­zulegen», findet Werthmüller. «Besonders in stressigen Situationen hilft es, sich auf den Atem zu besinnen und kurz Abstand vom Gedankenkarussell zu gewinnen.» «Atmung und Pausen sind einfache, effektive Werkzeuge, um sich wieder ins Hier und Jetzt zu bringen», sagt auch Markus Renevey. «Sie helfen, sich mit sich selbst zu verbinden, und verhindern, dass man sich im Stress verliert.»
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Jelena Martinelli ist selbstständige Texterin bei martinellitext. Sie schreibt leidenschaftlich gerne Blogs und Publireportagen und auch sonst alles, was mit Online-Marketing zu tun hat.

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