«Niemand ist resilienzlos»
Es wird viel über Achtsamkeit und Resilienz gesprochen, doch wie kann Resilienz gezielt gestärkt werden, und welche Rolle spielt Achtsamkeit dabei? Wir haben mit Psychologin Marina Zinsli darüber gesprochen, wie sich beide Konzepte im Berufs- und Privatleben sinnvoll einsetzen lassen.

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Unsere Grosseltern wuchsen in einer Zeit auf, die von Krisen und Entbehrungen geprägt war. Im Vergleich dazu ist unsere Generation in weitgehend geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Derartige Krisen oder existenzielle Not gehören für die meisten nicht mehr zur Lebensrealität. Und doch scheint es, als würden heute mehr Menschen psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen. Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Resilienz, und macht ein komfortables Leben uns weniger widerstandsfähig?
«Es ist eine Mischung aus beidem», sagt Marina Zinsli, lic. phil., Psychologin und stellvertretende Leiterin der Fachgruppe Wirtschaftspsychologie am Psychologischen Institut der ZHAW. «Wohlstand kann Resilienz fördern, wenn er mit psychologischen Schutzfaktoren einhergeht.» So reduziere finanzielle Sicherheit nicht nur existenzielle Sorgen, sondern ermögliche auch persönliche Entfaltung und stärke soziale Ressourcen – beides entscheidende Faktoren für psychische Widerstandskraft. Gleichzeitig könne ein Leben ohne grössere Herausforderungen dazu führen, dass Bewältigungsstrategien weniger ausgeprägt seien.
«Das ist wie Muskelaufbau beim Sporttraining. Resilienz entwickelt sich durch den konstruktiven Umgang mit Schwierigkeiten», betont Zinsli. Wer nie mit Rückschlägen konfrontiert wurde, könnte sich bei plötzlichen Krisen schneller überfordert fühlen. Doch hier setzt die positive Psychologie an: «Indem wir gezielt Strategien wie mentale Flexibilität, soziale Unterstützung und Sinnorientierung fördern, können wir Resilienz auch unabhängig von äusseren Umständen stärken.»
Wie Resilienz entsteht
Fakt ist: Resiliente Menschen sind in der Lage, grosse Herausforderungen zu bewältigen. «Das bedeutet nicht, dass sie nicht leiden – aber sie verfügen über Strategien, um Krisen zu meistern, oder suchen sich Hilfe», erklärt die Psychologin. Resilienz sei ein dynamischer Prozess, der auf mehreren Ebenen gefördert werden kann – kognitiv, emotional und körperlich. «Welche Methode am besten wirkt, ist individuell und hängt von persönlichen Vorlieben ab. Nicht jede Intervention passt zu jeder Person», betont Zinsli. Während einige von Resilienzübungen wie «3 Good Things» (siehe unten) profitierten, bei denen der Fokus auf positiven Erlebnissen des Tages liegt, stärkten andere ihre Widerstandskraft durch Achtsamkeitsübungen.
Doch worin unterscheidet sich Resilienz von Achtsamkeit? «Achtsamkeit und Resilienz verfolgen unterschiedliche, aber sich ergänzende Ziele», betont Zinsli. «Achtsamkeit bedeutet, bewusst im Hier und Jetzt zu sein und die Gegenwart wertfrei wahrzunehmen. Resilienz hingegen ist zukunftsorientiert. Sie befähigt uns, aktiv mit Herausforderungen umzugehen, statt in der Krise zu verharren.»
Entscheidend sei die innere Haltung: Wer überzeugt sei, schwierige Situationen bewältigen zu können, erlebe sie als weniger belastend. Fehle diese Zuversicht, könne hingegen Stress entstehen. Ein Beispiel: Nach einem beruflichen Misserfolg können Enttäuschung und Selbstzweifel auftreten. Resilienz zeigt sich darin, diese Gefühle anzunehmen und schrittweise eine neue Perspektive zu entwickeln. Etwa, indem man den Rückschlag als Lernchance betrachtet und eigene Stärken neu ausrichtet. «Es geht nicht darum, Schwierigkeiten schönzureden», betont die Psychologin, «sondern darum, einen Weg zu finden, gestärkt aus herausfordernden Situationen hervorzugehen.»
Resilienz: ein lebenslanger Lernprozess
Resilienz ist nicht an ein bestimmtes Alter gebunden. «Idealerweise beginnt man früh damit, sie zu fördern», sagt die Psychologin. «Denn Resilienz ist keine kurzfristige Strategie, sondern eine lebenslange Fähigkeit: Sie hilft, Erfahrungen zu verarbeiten, daran zu wachsen und sich kontinuierlich weiterzuentwickeln.» Doch auch wer sich erst später mit dem Thema auseinandersetzt, kann seine Widerstandskraft gezielt trainieren.
Die Strategien zur Förderung von Resilienz unterscheiden sich auch bezüglich kultureller Hintergründe. «Im Westen liegt der Fokus stärker auf dem Individuum», erklärt Zinsli. «Schon in der Kindheit wird vermittelt, dass es eine persönliche Stärke ist, Herausforderungen allein zu bewältigen – wer das schafft, gilt als erfolgreich». In vielen nicht-westlichen Kulturen hingegen sei das Gemeinschaftsdenken ausgeprägter. Dort beruhe Resilienz stärker auf dem Zusammenhalt der Gruppe. «Letztlich ist eine Balance beider Ansätze ideal.»
Achtsamkeitstraining
2-Minuten-Atemfokus (Mindful Breathing) (Zaccaro et al., 2018)
Wirkung: reduziert Stress, verbessert die Konzentration
So geht es:
- Schliessen Sie die Augen oder richten Sie den Blick auf einen Punkt.
- Atmen Sie tief durch die Nase ein (4 Sekunden), halten Sie kurz (2 Sekunden) und atmen Sie langsam durch den Mund aus (6 Sekunden).
- Achten Sie auf das Gefühl des Atems – wenn Gedanken abschweifen, sanft zum Atem zurückkehren.
Dauer: 2 bis 5 Minuten, beispielsweise vor einem Meeting.
5-Sinne-Scan (Mindful Noticing) (Garland et al., 2011)
Wirkung: erhöht die Achtsamkeit, reduziert Stress
So geht es:
- Nennen Sie 5 Dinge, die Sie sehen.
- Nennen Sie 4 Dinge, die Sie hören.
- Nennen Sie 3 Dinge, die Sie fühlen.
- Nennen Sie 2 Dinge, die Sie riechen.
- Nennen Sie 1 Sache, die Sie schmecken.
Dauer: 2 bis 3 Minuten, beispielsweise während einer Pause.
Resilienztraining
ABC-Methode zur kognitiven Umstrukturierung (Schöttke, 2010)
Wirkung: reduziert stressige Gedanken, fördert rationales Denken
So geht es:
- A (Activating Event): Notieren Sie eine belastende Situation.
- B (Belief): Welcher automatische Gedanke taucht auf?
- C (Consequence): Welche Emotion oder Reaktion folgt?
- D (Disputation): Gibt es Beweise dagegen? Eine alternative Sicht?
- E (Effect): Formulieren Sie einen neuen, hilfreichen Gedanken.
3 Good Things (Dankbarkeitsübung) (Seligman et al., 2005)
Wirkung: steigert das Wohlbefinden, reduziert negative Gedanken, fördert eine optimistische Perspektive
So geht es:
- Nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit.
- Schreiben Sie drei positive Dinge auf, die an diesem Tag passiert sind. Es können auch kleine Dinge sein.