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Aufholpotenzial bleibt gross
Es tut sich etwas bezüglich Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Schweiz – sei es im Privaten, im Unternehmensalltag oder jüngst auch politisch. Doch das ist nach wie vor nicht genug, denn im europäischen Vergleich hinkt die Schweiz immer noch hinterher. Wie es um die Vereinbarkeit steht: eine Momentaufnahme.
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Foto: Kelly Sikkema / Unsplash
Wintersession 2024. Am Mittwoch, 11. Dezember, stimmte der Ständerat mit 27 zu 14 Stimmen für die finanzielle Entlastung junger Eltern. Diese sollen künftig bei den Kita-Kosten mit einer Betreuungszulage entlastet werden. Ein positiver Entscheid, wenn auch noch unklar ist, was er genau bedeutet. Denn die Finanzierung überlässt der Ständerat den Kantonen – wie so vieles im föderalistischen Schweizer System.
So oder so ist die Abstimmung ein Schritt in die richtige Richtung. Zumal Schweizer Eltern bisher im europäischen Vergleich einen viel höheren Anteil für die familienergänzende Betreuung bezahlen müssen. Rund 46 Prozent des durchschnittlichen Einkommens eines Schweizer Haushaltes geht für Betreuungskosten drauf, wenn beide Elternteile hundert Prozent arbeiten und ihre zwei Kinder an fünf Tagen in der Woche in einer Kita betreut werden.
Im Vergleich bezahlen Eltern in Deutschland für die volle Betreuung zweier Kinder im Schnitt gerade einmal 1 Prozent ihres Lohns, in Österreich 3 Prozent und in Frankreich 17 Prozent, wie eine Unicef-Studie aus dem Jahr 2021 zeigt. «Das führt dazu, dass sich bei gewissen Einkommen und mehreren Kindern eine Teilzeiterwerbstätigkeit finanziell nicht lohnt, da das Erwerbseinkommen gleich wieder für die Kinderbetreuung ausgegeben werden muss», wie die Zürcher Kantonsrätin Chantal Galladé betont. Ihre Forderung daher: «Ein Elternurlaub für beide Elternteile sowie eine höhere Beteiligung und Unterstützung von familienergänzender Betreuung sind wichtige Schritte zur Unterstützung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.»
Weg vom traditionellen Rollenbild, hin zur Vereinbarkeit
Das Thema Elternurlaub ist für Michèle Widmer, Head of Content von «mal ehrlich», der Schweizer Plattform und Community für gleichberechtigte Eltern, im Vergleich zur Elternzeit in Deutschland «ein Witz». Hinzu komme der Rückfall in veraltete Rollenbilder. So beobachtet Widmer, dass in der Schweiz viele Paare zwar eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Beziehung führen. «Allerdings nur, bis zum Moment, an dem sie Eltern werden. Dann kommt das traditionelle Familienmodell wieder hoch aufgrund von hohen Fremdbetreuungskosten, der nach wie vor herrschenden Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen und der geringen Möglichkeiten von Teilzeitarbeit.»
Gerade letzteres zeigt: Nicht nur die Politik ist gefordert, auch die Unternehmen. «Diese können mit flexiblen Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit beide Geschlechter unterstützen und teilzeitarbeitenden Mitarbeitenden Aufstiegschancen ermöglichen», sagt Widmer. Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind die grössten Hindernisse bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf lange Arbeitszeiten, gefolgt von unvorhergesehenen und ungünstigen Arbeitszeiten sowie zu lange Arbeitswege.
Noch sind sich viele Unternehmen trotz Fachkräftemangel nicht bewusst, wie wichtig es ist, auf Vereinbarkeit zu setzen, gerade wenn man die Frauen im Betrieb halten oder zurückholen möchte. Doch gibt es einige Firmen, die bereits heute mit einem guten Beispiel vorangehen, wie das Technologieunternehmen Google, der Einrichtungskonzern IKEA oder das Schweizer Detailhandelsunternehmen Migros.
Sie alle haben erkannt, dass die Vereinbarkeiten, und die damit einhergehende Berufsattraktivität von Frauen und Männern, ein wichtiger Faktor für Wohlstand und Fortschritt der Gesellschaft sind. So setzt die Migros auf eine familienfreundliche Kultur und unterstützt ihre Mitarbeitenden mit zahlreichen Massnahmen und Angeboten, um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern.
Vereinbarkeit für alle
Ein weiteres Unternehmen mit familienfreundlichen Strukturen ist die Digitalagentur Unic. «Bei uns ist Vereinbarkeit schon länger ein Bestandteil unserer Unternehmenskultur», erzählt Nadine Schlegel vom Bereich People und Human Resources. Ein konkretes Beispiel für diese Haltung sei, dass sie in der Schweiz schon sehr früh einen zweiwöchigen bezahlten Vaterschaftsurlaub anbieten – «lange bevor das zum Standard wurde». «Heute arbeitet die Hälfte unserer Mitarbeitenden in einem Teilzeitmodell.»
Hinzu kommt, dass bei Unic die Vereinbarkeit keine Frage der Hierarchie oder Position sei. So könnten auch die Office Managerinnen und Manager an den verschiedenen Standorten davon profitieren. «Sie arbeiten alle Teilzeit und können so Beruf und Familie optimal vereinbaren. Mehrere Kolleginnen sind zudem nach ihrem Mutterschaftsurlaub mit reduziertem Pensum in diese Rolle zurückgekehrt.» Tolle Firmenkulturen, die noch lange nicht selbstverständlich sind. Die Schweiz hat definitiv noch Potenzial.
Wie es hingegen im Nachbarland Deutschland aussieht, weiss Sarah Kröger von working@office.
3 Fragen an…
Chrischi Mancev, GL-Assistentin Operations (70-Prozent-Pensum), Migros Supermarkt AG in Zürich und Mutter von zwei Kindern
Wie steht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Ihrem Unternehmen?
Chrischi Mancev: Bei Migros ist die Balance zwischen Beruf und Familie wichtig. Wir haben ein umfangreiches Angebot zur Kinderbetreuung. Das schliesst Beratung durch unseren Familienservice ein, der bei der Suche nach geeigneten Betreuungsmöglichkeiten hilft, und wir bekommen auch finanzielle Unterstützung für die Betreuungskosten. Ausserdem haben wir das «Mobil-Flex-Arbeitsmodell», das uns erlaubt, flexibel zu entscheiden, wann und wo wir arbeiten, solange es im gesetzlichen Rahmen bleibt. Diese Flexibilität ist ein grosser Vorteil, um Beruf und Familie besser zu vereinbaren.
Wie bringen Sie persönlich Familie und Beruf optimal unter einen Hut?
Für mich ist es eine Mischung aus guter Planung und Stress (lacht). Kein Tag oder Woche ist gleich, daher ist es wichtig, auch flexibel zu sein. Als berufstätige Mutter ist eine gute Organisation entscheidend – sowohl privat als auch beruflich. Ich habe zum Glück einen sehr verständnisvollen Chef, der weiss, dass ich meine Aufgaben erledige, auch wenn ich mal früher gehen muss. Vertrauen und Wertschätzung sind essenziell, damit die Balance zwischen Familie und Beruf gelingt.
Was wünschen Sie sich betreffend der Vereinbarkeit in Schweizer Unternehmen?
Ich denke, es fehlt noch an ausreichendem Verständnis für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in vielen Schweizer Unternehmen. Es wäre schön, wenn das Thema nicht mehr so abschreckend wirken würde. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass viele Mütter, die bereit sind, diesen Spagat zu meistern, äusserst motivierte und engagierte Mitarbeiterinnen sind. Ich würde mir auch mehr Verständnis für Väter wünschen, die Teilzeit arbeiten möchten. So könnten Familien die Betreuung besser untereinander aufteilen und sogar Kosten für externe Betreuung sparen.