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Eine Art Frühlingsputz
Alle sprechen über Innovation, aber niemand über Exnovation. Dabei geht das eine ohne das andere nicht. Denn um Neues im Unternehmens- und Büroalltag zu implementieren, muss man sich von Altem verabschieden. Also, reden wir doch mal darüber: ein Gespräch mit Zukunftsforscher Joël Luc Cachelin.
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Foto: Wolfgang Rottmann / Unsplash
Warum braucht es Exnovation?
Joël Luc Cachelin: Es gibt zwei Gründe. Der eine ist das Streben nach Nachhaltigkeit, der andere Innovationen. Nur wer regelmässig alte Prozesse und Produkte ausmistet, schafft Ressourcen, Zeit und Fähigkeiten, mit denen man an der Zukunft arbeiten kann: Wenn sich alle Mitarbeitenden nur mit den Innovationen der Vergangenheit beschäftigen, gibt es keine Innovation.
Welche Risiken entstehen, wenn Innovation stattfindet, ohne dass Altes verabschiedet wird?
Aus Sicht der Gesellschaft besteht das eine Problem darin, dass alte Innovationen Nebenwirkungen haben können – etwa die industrielle Fleischproduktion, das Bauen mit traditionellem Beton oder die Nutzung von fossilen Energieträgern. Ein zweites Problem sind die extrem hohen Kosten für kaum noch genutzte Infrastrukturen, welche die Steuerzahlerin und der Steuerzahler finanzieren. Beispiele hierfür sind die noch bestehende Briefpost und das noch genutzte Bargeld.
Wie erkennen Unternehmen, wann es an der Zeit ist, alte Strukturen oder Prozesse loszulassen?
Entweder gibt es einen gesellschaftlichen Diskurs, der Produkte, Prozesse und Praktiken in Frage stellt. Oder man beobachtet ständig eine kontinuierliche Abnahme der Anzahl Nutzenden, beziehungsweise der Nutzungsintensität. Weiter spielt natürlich eine Rolle, ob Innovationen auf den Markt kommen, die ein bestehendes Angebot in Frage stellen. Analoge Kamera und Discmans sind verschwunden, weil digitale Fotokameras und der iPod auf den Markt kamen. Letztere verschwanden wiederum durch das iPhone.
Wie ordnen Sie die Aussage «Das wurde schon immer so gemacht» ein? Warum fällt es Menschen schwer, sich von bewährten Methoden und Konzepten zu trennen?
Auf der individuellen Ebene geht es um Gewohnheiten, um Nostalgie und um Unsicherheit, ob und wie man Neues ausprobieren und in sein Leben integrieren soll. Ein aktuelles Beispiel ist die Nutzung von generativer Künstlicher Intelligenz. Wichtiger scheint mir aber die Makro-Ebene. Die Gewinnerinnen und Gewinner haben in der Regel kein Interesse, dass es zu Exnovation kommt. Sie verhindern durch Lobbying, Marketing und Fake News, dass die Vergangenheit noch weiterleben kann, beispielsweise indem sie die Schädlichkeit von alten Innovationen mit augenscheinlich gekauften Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern öffentlich anzweifeln.
Wie können Führungskräfte, aber auch beispielsweise Assistenzen, Exnovation gezielt fördern, ohne Unruhe im Team zu erzeugen?
Indem sie Exnovation als positiven Prozess sehen. Sie ist eine Chance, um Platz für Neues zu machen, eine Art Frühlingsputz, eine heilende Entschlackung. Assistenzen sind bei diesem Prozess vor allem bei der konsequenten Durchführung gefragt, damit eine Organisation nicht in alte Muster fällt – etwa, wenn man beispielsweise beschlossen hat, papierlos zu werden.
Welche Tools und Methoden unterstützen Unternehmen bei der strukturierten Exnovation?
Ein Hilfsmittel ist sicher das aktive Controlling der Nutzungshäufigkeit. Zweitens kann es helfen, eine verantwortliche Person für das Exnovieren einzusetzen – so wie es heute überall Innovationsverantwortliche gibt. Drittens rate ich zu Ablaufdaten. Jedes Gremium, jedes Produkt, jedes interne Kommunikationstool sollte ein Ablaufdatum haben, statt von einer endlosen Erneuerung auszugehen. Viertens ist die Fähigkeit zur Exnovation eine Frage der Kultur und hier spielt das Selbstvertrauen einer Organisation eine Rolle. Nur wer sich selbst vertraut, ist stark genug, um sich vom Alten zu trennen.
Welche Branchen profitieren besonders von Exnovationsprozessen?
Vermutlich alle Branchen, die heute am meisten CO2 verursachen. Konkret geht es um die Energie- und Bauwirtschaft sowie die Mobilität. Aber auch die Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion, insbesondere von Fleisch und Milchprodukten, könnten profitieren, wenn sie Exnovationen aktiv angeht. Dazu müsste man bei der Produktion mehr auf pflanzliche und High-Tech-Nahrung setzen, etwa in Form von Algen, Pilzen oder Laborfleisch. In der Landwirtschaft rentiert es sich für einen einzelnen Hof heute mitunter gar nicht mehr, Nutzvieh zu halten. Hier kann Exnovation Raum für Neues schaffen.
Wie wird sich das Verhältnis von Innovation und Exnovation in einer zunehmend digitalisierten Welt entwickeln?
Exnovation ist schon heute in der digitalen Welt wichtig, weil sich diese immer weiterentwickelt. So sollten sich Unternehmen von nicht mehr gepflegten Social-Media-Kanälen, verrottenden Wissensmanagement-Tools sowie von veralteter und nicht mehr sicherer Software trennen. Mit Blick voraus könnten auch die heutigen Praktiken von Social-Media- und KI-Anbieter zu Exnovationskandidaten werden. Ich denke an die Probleme, die Social Media im Bereich der psychischen Gesundheit verursachen können, den hohen Energieverbrauch von KI oder das Multiplizieren von Fake News.
Also ist KI in Ihren Augen eher eine «Übergangslösung»?
Nein, aber wie bei vielen neuen Technologien werden die Probleme erst nach einer gewissen Zeit sichtbar. Als Facebook und Myspace aufkamen, freuten wir uns über die neuen Formen der Vernetzung und Unterhaltung. Man glaubte an Demokratisierung, und ahnte noch nicht, wie gefährlich die sozialen Netzwerke für Demokratie und psychische Gesundheit werden könnten.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in der Debatte über Innovation und Exnovation?
Eine riesige. Mir ist es aber wichtig aufzuzeigen, dass Nachhaltigkeit nicht der einzige Grund zum Exnovieren ist. Der «kapitalistische Strang» der Exnovation ist genauso relevant. Exnovation heisst eben auch, an der Effizienz zu arbeiten und dadurch Kosten zu sparen, Prozesse zu vereinfachen oder Zeit für Innovation freizuschaufeln.
Joël Luc Cachelin
Joël Luc Cachelin ist Geschäftsführer der Wissensfabrik, die in Zukunftsfragen forscht, inspiriert und begleitet. Er hat mehrere Sachbücher veröffentlicht, zuletzt zur Zukunft der Stadt (Verlag «niggli», 2024).
wissensfabrik.ch