Wertvolle Sprachkultur für die heissen Eisen
Heikle Momente und schwierige Nachrichten sind eine Herausforderung. Besonders bei schwierigen Sachverhalten ist es wichtig, auf die Bedeutung und Qualität der Worte zu achten. Zugegeben, das ist kein Kinderspiel, aber auch keine Hexerei. Unternehmenswerte helfen, richtig gute E-Mails und Briefe zu schreiben.
«Ich bin blind. Bitte helfen Sie mir!», steht auf dem Schild neben ihm. Doch die Menschen beachten den alten Mann kaum. Einige werfen ihm ein paar Münzen hin, viele sind es nicht. Da kommt eine junge Frau vorbei, bleibt stehen und holt einen Stift aus ihrer Handtasche. Sie nimmt den Pappkarton, der neben dem blinden Mann steht und schreibt etwas drauf. Sie geht weg. Und auf einmal sind es viele Passanten, die Geld hinlegen und einen Augenblick innehalten. Die junge Frau kommt erneut vorbei, der blinde Mann erkennt sie wieder, als er ihre Schuhe betastet: «Was haben Sie getan?», fragt er. «Ich habe Ihre Worte verändert.» Sie geht weg. Auf dem Karton steht: «Heute ist ein wunderbarer Tag, aber ich kann ihn nicht sehen.» Das Youtube-Video mit dieser Geschichte zeigt, wie Worte die Welt, eine Einstellung, ein Gefühl verändern und Menschen berühren und verändern können. Dieser Grundsatz gilt auch für die Korrespondenz, den schriftlichen Dialog in Briefen und E-Mails.
Besonders bei schwierigen Sachverhalten und heiklen menschlichen Momenten ist es wichtig, auf die Bedeutung und Qualität der Worte und Wendungen zu achten. Antworten auf Beschwerden, Stellungnahmen, Absagen oder traurige Botschaften sind wertvoll, wenn sie von Menschenhand geschrieben sind. Die «Gefühlstechnokratie», zu finden in vielen Textbausteinen, ist wertlos und erloschen – ohne Energie.
Ein Seminarteilnehmer bat kürzlich um Unterstützung, er war ratlos. Ein Kunde hatte ihn herausgefordert und etwas verlangt, was wohl viele Korrespondenten in Unternehmen etwas nachdenklich stimmt. Der Kunde hatte unmissverständlich geäussert: «Ich möchte eine Antwort von Ihnen und keinen Textbaustein.»
Die heissen Eisen in der Korrespondenz verlangen viel: die Fähigkeit, einen Sachverhalt verständlich zu erläutern. Dazu braucht es Textkompetenz, den Zugang zu Synonymen, treffenden Formulierungen sowie eine Prise Übung. Es braucht ein angemessenes Mass an Empathie, der Fähigkeit, sich einzufühlen und auf die Seite des Gesprächspartners zu stellen. Voraussetzung dafür ist eine wohlwollende Haltung und die Idee, dass Menschen willkommen sind. Es braucht den Mut, beim eigenen Standpunkt zu bleiben, ohne stur zu wirken. Und es braucht eine starke sowie gelebte Unternehmenskultur im Rücken, die Assistentinnen absichert.
Menschen legen Worte in die Waagschale, nahezu alles wird hinterfragt. Die Klänge zwischen den Zeilen, auch Subtext genannt, wirken. Oft präsentieren sich da die wahre Haltung und Kultur. Texten ist es anzulesen, ob sie mit dem Wunsch nach Zufriedenheit oder bereits mit der Good-bye-Einstellung formuliert wurden. Der «Und-Tschüss-Klassiker» ist zum Beispiel «Wir bitten Sie um Kenntnisnahme und danken für das Verständnis.»
Die wollen ja etwas von uns!
Die junge Assistentin ist aufgebracht und empört. Sie ärgert sich über Kunden und wittert die Gefahr, über den Tisch gezogen zu werden. «So nicht!», wettert sie weiter und gibt ihr Antwortschreiben zur Diskussion im Seminarraum frei. Es lautet so:
Sehr geehrter Herr …
Sie haben uns Ihre Abrechnung für die Leistungen … zugestellt. Leider ist diese falsch, da die oben erwähnte Klientin nicht gegen … bei uns versichert ist. Wir senden Ihnen die Rechnung zurück. Sie haben Fragen, dann rufen Sie an.
Freundliche Grüsse
Dem Empfänger bläst eine kurzangebundene Ansprache entgegen. Die Assistentin schreibt das, was sie fühlt, und geht damit emotional aufgeladen und sehr abgewendet an die Situation heran. Angenommen, das Unternehmen lebt die Werte «Mensch vor Sache», «Information vor Vorwurf und Belehrung» sowie «Nähe vor Distanz», klingt die Antwort so:
Sehr geehrter Herr …
Ihre Klientin/Patientin, Frau …, hat bei uns eine Versicherung gegen … abgeschlossen, für … besteht keine Deckung. Aus diesem Grund können wir Ihre Rechnung nicht bearbeiten oder bezahlen. Bitte klären Sie mit Ihrer Klientin/Patientin, Frau …, welche Versicherung zuständig ist. Vielen Dank.
Freundliche Grüsse
Aus der neuen Version spricht der charmante Klartext. Worte verändern Realitäten.
Die Vier-Werte-Strategie
Sind im Unternehmensleitbild keine konkreten Hinweise über die Heisse-Eisen-Kommunikation auffindbar, lässt sich mit der Vier-Werte-Strategie als Basis für die Textentwicklung arbeiten.
Dialogbereitschaft
Freundliche Grundstimmung, Menschen verabschieden und nicht loswerden. Das eigene Handeln immer mal wieder reflektieren.
Beispiel: «Ihre Klientin verfügt bei uns über eine Versicherung gegen …», «Bitte sprechen Sie uns an, wenn Sie Fragen zur Rechnung haben.»
Führungsfähigkeit
Menschen herzhaft an die Hand nehmen, klare Aussagen neutral formulieren.
Beispiel: «Bitte klären Sie mit Ihrer Kleintin/Patientin, welche Versicherung für … zuständig ist. /Wir empfehlen Ihnen folgendes Vorgehen: …»
Selbstbewusstsein
Stark und entspannt sein, etwas wagen.
Beispiel: «Ihre Rechnung ist bei uns eingetroffen. Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Ihre Klientin ist bei uns einzig gegen … versichert.»
Qualitätsanspruch
Schreiben, lesen/reflektiern, senden. Inhalte sind verständlich und gut formuliert – sie sind voller Wert und Qualität.
Beispiel: «Vielen Dank für Ihre Rechnung. Wir haben die Versicherungsdeckung Ihrer Klientin geprüft. Bei uns ist Frau … einzig gegen … versichert. Eine Deckung für … besteht bei einer anderen Versicherung/Gesellschaft.»
Drei dieser vier Werte sind schwierig umzusetzen. Dialogbereitschaft wird oft verwechselt mit nachgeben. Das Selbstbewusstsein landet in der Ecke der Überheblichkeiten und der Führungsanspruch auf dem Waffenplatz. Zudem verleiten unangenehme Botschaften zu einer Überbetonung der Sachlichkeit, was zu kurzer und glasklarer, im Grunde aber unerträglicher Kommunikation führt, die niemand möchte. (Sie haben uns eine Rechnung zugestellt.) Wie schaut also die Balance zwischen Sachlichkeit und Subjektivität aus und welche Qualitäten haben beide Seiten?
Sachlichkeit
- Klarheit in den Aussagen ist garantiert: Keine Wertung und Vorwürfe (Sätze kommen ohne «leider» und «bedauern» aus).
- Kompetenz ist sichtbar: Argumente, Sachverständnis, inhaltliche Genauigkeit: präzise Wortwahl.
- Beziehungen sind weniger wichtig: Das Briefing, die Nachrichtenübermittlung steht im Zentrum.
Subjektivität
- Kontakt und Nähe sind erlaubt: Ein freundliches PS im Mail, ein Dank (nicht so: Die wollen ja etwas von uns! Anders: Es ist unser Job und wir machen es gerne).
- Vertrauen baut sich auf: Ich-Form verwenden, Gesprächsangebot im Schlusssatz.
- Menschen wirken: Ich schreibe so, dass alle mit uns zu tun haben möchten.
Schwierige Nachrichtenkommunikation mit Sachlichkeit und Subjektivität ist nicht nur menschlich richtig, sie ist auch professionell, weil beide Qualitäten ausgewogen zu einem guten Resultat führen. Erst in der Abwertung und Übertreibung entsteht ein Schaden. Mit diesem Anstoss nahm die junge Assistentin ihren Text und formulierte ihn neu.
Ihre Rechnung
Guten Tag, sehr geehrter Herr …
In aller Regel erledigen wir die Post unserer Kunden schnell und leiten die Zahlungen ein. Bei Ihrer Rechnung können wir diesen Service nicht bieten, weil Ihre Klientin bei uns einzig gegen … versichert ist. Da wir keine Möglichkeit haben, die zuständige Versicherung ausfindig zu machen, bitten wir Sie, mit Frau … zu sprechen.
Wir hoffen, dass es bei einem nächsten Mal wieder ganz unkompliziert läuft.
Freundliche Grüsse
Im Idealfall definiert ein solches Beispiel einen neuen Standard im Unternehmen. Dieser Brief ist eine stimmige Resonanz auf eine Aussage, die zu Diskussionen über Leitbilder und Visionen passt: Ohne Professionalität schaffen wir es nicht. Ohne Menschlichkeit ertragen wir es nicht. Worte verändern Realitäten.