Stress – Wann haftet ein Arbeitgeber?
Immer mehr Arbeitnehmende leiden unter Stress. Arbeitgeber sind verpflichtet, für das Wohl ihrer Mitarbeitenden zu sorgen und übermässige Belastungen zu vermeiden. Inwiefern sind Arbeitgeber haftbar, wenn Mitarbeitende an den Folgen von Stress erkranken?
Immer mehr Arbeitnehmende zeigen Stresssymptome. Nach einer Studie des Seco von 2010 leiden 34,4 Prozent der Schweizer Bevölkerung unter chronischem Stress. Die hierdurch verursachten Kosten sind enorm.
Im schweizerischen Recht gibt es verschiedene Normen, die den Arbeitgeber verpflichten, für das Wohl seiner Arbeitnehmenden zu sorgen und übermässige Belastungen zu vermeiden. Im Zentrum steht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (Art. 328 OR). Gemäss Art. 328 Abs. 2 OR muss der Arbeitgeber im betrieblichen Alltag die erforderlichen und technisch sowie finanziell zumutbaren Massnahmen treffen, damit das Leben und die Gesundheit der Arbeitnehmenden keinen Schaden erleiden.
Art. 6 des Arbeitsgesetzes sieht vor, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, zum Schutze der Gesundheit der Arbeitnehmenden alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind.
Konkretisiert wird dies durch die Verordnung Nr. 3 zum Arbeitsgesetz (Art. 2), wonach der Arbeitgeber alle Anordnungen erteilen und alle Massnahmen treffen muss, die nötig sind, um den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit seiner Arbeitnehmenden zu wahren und zu verbessern.
Zulässige oder unzulässige Belastung?
Es gilt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Belastung übermässig ist. Häufige Belas-tungsfaktoren stellen etwa Zeitdruck, lange Arbeitstage, Erledigen von Arbeitsaufgaben in der Freizeit, Nichtvorhandensein von Ferienvertretungen, unklare Anweisungen oder generell schlechtes Führungsverhalten des direkten Vorgesetzten, hohe emotionale Anforderungen sowie soziale Diskriminierung dar. Übermässig ist eine Belastung erst, wenn sie so stark ist, dass sie die physische oder psychische Gesundheit des Arbeitnehmenden ernsthaft beinträchtigen könnte. Nicht alles, was zu Hektik führt, stellt eine übermässige Belastung dar. Es hat eine Prüfung aus der Sicht des betroffenen Mitarbeitenden zu erfolgen.
«Es gilt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Belastung übermässig ist.»
Voraussetzungen für Haftbarkeit
Wenn ein Mitarbeiter an den Folgen von Stress erkrankt und der Arbeitgeber nicht die erforderlichen Schutzmassnahmen getroffen hat, kann der Arbeitgeber haftbar gemacht werden, wenn beim Arbeitnehmer ein finanzieller Schaden entsteht. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber nicht direkt der Verursacher des Stresses ist. Es kann somit zwischen der Stresshaftung im engeren und im weiteren Sinne unterschieden werden. Im ersten Fall liegt der Stresssituation eine Überlastung des Arbeitnehmers, hervorgerufen durch eine übermässige Erwartungshaltung des Arbeitgebers, zugrunde. Im zweiten Fall hat die Belastung andere Ursachen wie etwa ungünstige Arbeitsbedingungen infolge Lärm, Hitze, Passivrauchen etc. Ausserdem wären Krankenkassen, Krankentaggeldversicherer und allfällige weitere -involvierte Leistungsträger berechtigt, -gegenüber dem Arbeitgeber Regressforderungen geltend zu machen.
Es bestehen im Detail folgende Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit ein Arbeitgeber bei der Erkrankung eines Mitarbeitenden haftbar ist:
1. Schaden
Damit ein Schadenersatzanspruch geltend gemacht werden kann, muss der betreffende Arbeitnehmer einen Schaden, also eine unfreiwillige Vermögenseinbusse, erleiden. Als Schadensposition kommen insbesondere die Heilungskosten, der Einkommensersatz und die Abgeltung für die Erschwerung des beruflichen Fortkommens in Frage – vorausgesetzt, dass keine Versicherung bereits den Schaden gedeckt hat. Zudem wird in der Regel versucht, eine Genugtuung geltend zu machen. Die zugesprochenen Summen, vor allem im Zusammenhang mit der Genugtuung, sind in der Regel jedoch eher tief.
2. Vertrags- bzw. Gesetzeswidrigkeit
Damit ein Schadenersatzanspruch durchgesetzt werden kann, muss der Arbeitgeber seine vertraglichen Pflichten verletzt haben, namentlich seine Fürsorgepflicht gemäss Art. 328 OR. Aufgrund der offenen Formulierung des Gesetzesartikels kann konkret nur im Einzelfall bestimmt werden, ob die Fürsorgepflicht verletzt worden ist. Belastende Faktoren stellen nur dann eine Gefahr für die Gesundheit dar, wenn sie eine gewisse Intensität aufweisen. Ausserdem sind Belastungen, die mit der Erfüllung eines bestimmten Arbeitsvertrags verbunden sind (sogenannte tätigkeitsimmanente Belastungen), grundsätzlich hinzunehmen, und der Arbeitgeber kann hierfür nicht unmittelbar verantwortlich gemacht werden. Jedoch können solche Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses eine erhöhte Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und weitergehende Massnahmen gebieten.
3. Kausalität
Damit eine Haftung des Arbeitgebers für einen Gesundheitsschaden in Frage kommt, muss die Kausalität zwischen der Vertragsverletzung des Arbeitgebers und dem entsprechenden Gesundheitsschaden gegeben sein. Es ist also zu prüfen, ob der Stress tatsächlich die alleinige Ursache oder eine Mitursache für die Gesundheitsgefährdung darstellt. Stellt der Stress lediglich eine Mitursache dar, kann dies zu einer Reduktion der Haftung führen.
4. Verschulden und Vorhersehbarkeit
Weist der Arbeitgeber nach, dass ihn kein Verschulden trifft, ist er nicht schadenersatzpflichtig. Der Nachweis des fehlenden Verschuldens misslingt in der Regel, wenn der Arbeitgeber bereits wahrnimmt, dass mit dem fraglichen Mitarbeiter oder im Betrieb etwas nicht stimmt und er nicht aktiv wird.
So etwa, wenn die Mitarbeitenden vermehrt während ihrer Freizeit oder in den Ferien arbeiten müssen. Die Haftung des Arbeitgebers ist nur gegeben, wenn die Umstände, die zur Haftung führen, bekannt sind oder hätten bekannt sein sollen. Die Gesundheitsschädigung muss also vorhersehbar sein.
Belastung oft erst bei Kündigung ein Thema
Oft werden Verletzungen der Fürsorgepflicht nicht im Zusammenhang mit Haftungsklagen, sondern bei Kündigungen zum Thema. Hier wird oft geltend gemacht, eine durch den Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung sei missbräuchlich, da eine vorgängige Leistungsbeeinträchtigung des Arbeitnehmers, die zur Kündigung führte, durch die Missachtung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verursacht wurde. Anders als bei der Haftungsklage wird bei der Geltendmachung einer missbräuchlichen Kündigung nicht primär der Ersatz des entstandenen Schadens, sondern vielmehr eine Pönalentschädigung im Umfang von maximal sechs Monatslöhnen eingeklagt. In einem solchen Fall werden die Gründe, die zur Kündigung führen, als missbräuchlich angesehen, insbesondere, weil eine Leistungseinbusse mit übermässigem (und durch den Arbeitgeber nicht verhinderten) Stress direkt zusammenhängt.