Ergonomie

Stillsitzen ist keine Tugend

Mit kaum einem Möbelstück verbringen wir so viel Zeit. Er formt unsere Haltung und beeinflusst unser Befinden: der Bürostuhl. Auf dem Markt gibt es zahllose Modelle, immer neue kommen hinzu. Allen gemein ist, dass sie beweglich und verstellbar sind. Denn stundenlang in der gleichen Position zu verharren, ist nicht gesund. Aber nicht nur das ist ein Problem. 

Wenn Bernhard Amlinger, Ergonomieberater aus Münchenbuchsee, eine Firma betritt, um sich die Arbeitsplätze der Mitarbeiter anzusehen, stellt er meist fest: «90 Prozent der Stühle sind gut bis sehr gut. Aber ebenso viele Prozent der Mitarbeiter haben sie nicht richtig eingestellt.» Das geschehe in der Regel aus Unkenntnis: «Bei einem Seminar mit einer Belegschaft habe ich einmal in die Runde gefragt, wer denn die Bedienungsanleitung für seinen Stuhl gelesen habe. Eine einzige Dame meldete sich und erklärte, sie wisse zumindest, wo die Anleitung liege, habe aber bisher nicht die Zeit gefunden, sie zu lesen.» Aber so viel Zeit muss sein. «Ideal wäre es, wenn neue Mitarbeiter in der Firma nicht nur die Kollegen vorgestellt und die Kaffeeküche gezeigt bekämen, sondern auch, wie sie ihren Arbeitsplatz individuell einstellen könnten», meint Bernhard Amlinger. 

Drei Wochen Probesitzen

Ein guter Bürostuhl muss zumindest ein paar grundsätzliche Bedingungen erfüllen. Er sollte, ebenso wie der Schreibtisch, in der Höhe verstellbar sein. Dazu muss er eine in der Tiefe verstellbare Sitzfläche und eine neigbare Rückenlehne haben. Er sollte die Lenden stützen oder am besten gleich ein vollständig verstellbares Rückenteil haben. Ob Armlehnen nötig sind, hängt von den persönlichen Bedürfnissen des Sitzenden ab. Sie sollten daher leicht abmontierbar oder einklappbar sein. «Ein guter Bürostuhl ist 15 bis 25 Jahre einsetzbar. Daher wird vermutlich mehr als eine Person daraufsitzen», erklärt Bernhard Amlinger. Händler, die Bürostühle anbieten, fordert er, sollten die Stühle mindestens drei Wochen lang zum Probesitzen anbieten. 

Dabei kann man dann herausfinden, welche der neuen Techniken am besten zu einem passt. Bei Stühlen mit Synchronmechanik etwa sind Rückenteil und Sitzfläche aneinander gekoppelt. Sie bewegen sich in einem festen Verhältnis miteinander nach vorne und hinten. Bei Modellen mit Asynchronmechanik ist beides unabhängig voneinander beweglich. Bei Modellen mit Permanentkontaktmechanik passt sich die Rückenlehne der Bewegung an, die Sitzfläche bleibt aber fix. 3-D-Stühle bewegen sich auch seitlich. Dazu gibt es Modelle, die sich ausserdem automatisch dem Körpergewicht anpassen. Dieser zusätzliche Komfort ist letztlich aber auch eine Preisfrage.

Sondergrössen für die Kleinen 

«Wenn Firmen neue Stühle bestellen, nehmen sie in der Regel für alle das gleiche Modell, wegen des Mengenrabatts», hat Bernhard Amlinger beobachtet. Bei Extremfällen rät er jedoch zu individuellen Stühlen. «Bei einer Bank, die ich vor kurzem beraten habe, arbeiteten zwei sehr kleine Damen. Für sie habe ich zu Stühlen in Sondergrössen geraten.» Auch besonders schwere Menschen brauchen besondere Stühle: «Die meisten Modelle sind für ein Körpergewicht bis 120 Kilo genormt. Wer schwerer ist, braucht einen Stuhl mit besonders verstärkten Gelenken.» Er erinnert sich an einen Kunden, der 145 Kilo wog und sich schwer verletzt hatte, als er sich in seinem Bürostuhl zurücklehnte, die Lehne abbrach und der gebrochene Stuhlhals ihm eine schmerzhafte Fleischwunde zusetzte. 

Missverständnis Sitzball

Aber es gibt ja nicht nur klassische Bürostühle, sondern auch einige alternative Sitzgelegenheiten. Sitzbälle zum Beispiel werden seit den 1990er-Jahren als ergonomische Alternative angepriesen. Die grossen bunten Gummibälle, so die These, sollen den Rücken trainieren, weil man auf ihnen bewusst das Gleichgewicht halten muss. Doch Experten sind sich mittlerweile einig, dass der Sitzball kein Ersatz für einen Stuhl ist. Bei einer Studie in England 2009 etwa sassen die Probanden nach einer halben Stunde auch auf dem Ball krumm. Einziges Plus: Tatsächlich bewegten sie sich dabei um rund einen Drittel mehr als im Stuhl. Ergonomen bemängeln aber, dass man Bälle nicht individuell in der Höhe verstellen kann. Ausserdem bergen sie eine erhöhte Unfallgefahr, weil man von ihnen herunterfallen kann. Es gibt Arbeitgeber, die Sitzbälle deshalb sogar in ihren Büros verbieten.

Tipps für richtiges Sitzen im Büro

  • Die Bedienungsanleitung für den Bürostuhl lesen!
  • Stuhl in der Höhe so einstellen, dass der Rücken die Rückenlehne berührt, die Füsse komplett auf dem Boden stehen und die Oberschenkel leicht abgewinkelt sind 
  • Zwischen Kniekehle und dem Rand der Sitzfläche sollten mindestens zwei Finger breit Abstand sein; notfalls mit einem Keilkissen oder einer Fussstütze nachhelfen
  • Die Rückenlehne so einstellen, dass sie leicht nachgibt, wenn man sich hineinlehnt 
  • Beine-Übereinanderschlagen vermeiden
  • Den Schreibtisch der Stuhlhöhe so anpassen, dass die Arme einen 90-Grad-Winkel bilden, wenn die Unterarme entspannt auf der Tischplatte liegen 
  • Oft die Position wechseln, z. B. beim Telefonieren
  • Viel im Stehen oder Umhergehen erledigen, z. B. Unterlagen durchlesen 

Eine neuere Erscheinung ist der Swopper. Dabei handelt es sich um einen gepolsterten Hocker auf einem federnden Fuss, der sich in alle Richtungen biegt. Sein Vorteil gegenüber dem Ball: Er lässt sich in der Höhe verstellen. Bernhard Amlinger rät für Bälle und Swopper das Gleiche: «Es kann hilfreich sein, sich zwischendurch für eine halbe Stunde auf den Ball oder Swopper zu setzen. Danach sollte man aber wieder auf den Stuhl wechseln.» Beides seien vielmehr Trainingsgeräte und keine Sitzgelegenheiten. «Und auch ein Spitzensportler kann nicht acht Stunden lang die Körperspannung bewusst so halten, wie es beim Ball oder Swopper nötig wäre.» 

Weitgehend aus der Mode gekommen ist der Kniestuhl. In den 1980er-Jahren in Skandi-navien erfunden, hatten die Hocker mit Knieablage einen regelrechten Boom ausgelöst. Doch schon früh meldeten Ärzte und Ergonomen Bedenken an. Das Problem: Wer darauf sitzt, hält zwar seinen Rücken gerade, dafür quetscht er sich aber die Blutzufuhr zu den Unterschenkeln ab. Die Folge können verkalkte Arterien und Krampfadern sein. Vor allem aber schädigt die Haltung auf Dauer die Knie. Bernhard Amlinger fasst zusammen: «Der Kniestuhl ist ein No-Go.»

Nicht alles im Sitzen erledigen 

Mit einem guten und vor allem richtig eingestellten Stuhl ist viel gewonnen. Das allein schützt aber nicht vor Rückenproblemen und Verspannungen. «Man sollte jede Gelegenheit ergreifen, die sich zur Bewegung bietet», rät der Experte. Das fängt beim morgendlichen Gang ins Büro an: Keine Scheu vor der Treppe, auch wenn es einen Lift gibt. Wenn man sitzt, regelmässig kleine Streckübungen machen. Bernhard Amlinger rät zum Beispiel, bewusst die Position zu wechseln, wenn man telefoniert: Dabei den Rücken und die angewinkelten Arme nach hinten strecken. Wenn man ein längeres Dokument lesen muss, kann man das ebenso gut stehend oder umherlaufend erledigen. Er rät Firmen auch zu zentralen Druckerstationen, zu denen die Mitarbeiter hinlaufen müssen, wenn sie etwas gedruckt haben. Und auch nicht jede Kleinigkeit müsse man per E-Mail erledigen: «Wenn man die Kollegin im Nebenbüro fragen will, ob sie mit zum Lunch kommt, kann man auch hinübergehen und sie persönlich fragen.»

Linktipps

Arbeitsplatz-Beratung: Schweizerische Gesellschaft für Ergonomie: www.swissergo.ch

Zentrum für Arbeitsmedizin, Ergonomie und Hygiene (Zürich, Bern, Lausanne): www.aeh.ch

Tipps zum richtigen Sitzen von Krankenkassen:
Concordia: www.concordia.ch/de/private/gesund_sein/fitness/wenigersitzen.html
Helsana: www.helsana.ch/de/gesund_leben/wertvolle_ratschlaege/ergonomie/ergonomie...

 

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