Interkulturelle Kompetenz

Mehr als Knigge

Interkulturelle Kompetenz – braucht es das wirklich? Um es vorweg zu nehmen: ja unbedingt. Wer mit kulturellen Unterschieden umgehen kann, erreicht seine beruflichen Ziele leichter.

«Ich brauche das bis morgen!» Wer diesen Satz in der Schweiz zu einem Schweizer sagt, kann davon ausgehen, dass er das Gewünschte tatsächlich bis am folgenden Tag hat. Zeit ist hierzulande eine ziemlich fixe Grösse, die Vorstellungen darüber weichen nicht sehr weit voneinander ab. Für andere Kulturen gilt das nicht immer. Doch wie geht man damit um? Jean-Frédéric Kaertner ist Experte für interkulturelle Kommunikation. Er schult und coacht Menschen, die beruflich mit anderen Kulturen zu tun haben. «Der Umgang mit Zeit, das ­Thema Qualität oder Reibungsverluste in der Zusammenarbeit, sind die Dauerbrenner in meinen Seminaren und Coachings.» Früher oder später komme fast jeder im Arbeitsleben mit anderen Kulturen in Kontakt. Gerade in der Schweiz.

Die Assistenz als erster Eindruck

Aus diesem Grund findet er ein gewisses Mass an interkultureller Kompetenz unumgänglich. Nicht nur wegen der unterschiedlichen Landesteile, sondern auch, weil viele internationale Firmen und NGOs sich hier niedergelassen haben. «Diese Unternehmen entscheiden sich auch deshalb für die Schweiz, weil sie die Erwartung einer interkulturellen Kompetenz haben. Es ist nämlich nicht nur für den Einzelnen wichtig, interkulturell kompetent zu sein, sondern für Organisationen als Ganzs. Sie müssen in der Lage sein, Geschäftsrisiken im Ausland zu erkennen und sich vorausschauend an Marktveränderungen, Vorschriften und Normen anzupassen.» Gerade für die Assistenz empfindet der Experte die Kompetenz als immens wichtig: ­«Assistentinnen bilden einen wichtigen Vorposten der Geschäftsführung. Oft sind sie der erste Kontakt nach der Landung oder Taxifahrt und setzen erste Akzente», so Kaertner. In dieser Rolle lohne es sich auf jeden Fall, den Knigge zu kennen. Ausserdem empfiehlt der Experte, sich vor einem solchen Besuch umfassend zu informieren: «Wer etwaige Verbote und Tabus kennt und aus den Medien schon weiss, welche Themen in einem Land aktuell sind, kann Fettnäpfchen besser ausweichen.» Allgemeine kulturelle und sportliche Ereignisse seien am Anfang im Small Talk mögliche unverfängliche Themenfelder, findet er und rät Assistentinnen dazu, auch ihre Chefs diesbezüglich zu briefen. 

Im Zentrum steht das Ziel

Ganz wichtig ist ihm allerdings, dass es bei der interkulturellen Kompetenz um deutlich mehr geht, als ein bisschen korrekte Konversation zu betreiben, Fettnäpfchen zu meiden und sich nach Knigge zu verhalten. «Hinter der interkulturellen Kompetenz steht immer ein Ziel. Unternehmen haben zuallererst den Auftrag, nicht pleite zu gehen. Natürlich ist es schön, wenn sich die Menschen im Unternehmen gut verstehen, aber im Vordergrund stehen Unternehmensziele wie wichtige Aufträge, Führungsaufgaben in multikulturellen Teams, Projektarbeit über Kulturgrenzen hinweg oder ganz einfach der Wille, voneinander zu lernen.» In den Ferien sei man zwar auch in anderen Kulturen unterwegs, doch berufliche Ziele muss man dort selten erreichen. Wie interkulturell kompetent jemand in dieser Situation ist, spielt also eine untergeordnete Rolle. Ernst wird es erst, wenn wir beruflich darauf angewiesen sind.

«Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern, wie wir sind.»

Blick durch die kulturelle Brille

Doch wie genau geht das mit der interkulturellen Kompetenz? Zuerst einmal, so Kaertner, sei es wichtig zu verstehen, dass wir die Dinge nicht so sehen wie sie sind, sondern wie wir sind. Dieses Zitat der amerikanischen Schriftstellerin Anaïs Nin bedeutet: Wir alle tragen gleichzeitig eine kulturelle Brille und eine persönliche Brille, sind geprägt von unseren ­guten und schlechten Erfahrungen, Vorurteilen, Glaubenssätzen und sehen deshalb nur einen Teil der Realität. Und zwar unsere eigene. Wir selbst sowie auch unser Gegenüber sind also nicht ganz objektiv, deshalb ist interkulturelle Kommunikation eine ganz individuelle Herausforderung, bei der Sprache und Knigge eine Nebenrolle spielen. Nur wer das verstehe, könne sich letztlich auch in Menschen anderer Kulturen hineinversetzen und ein Gespür für die sichtbaren und unsichtbaren Unterschiede in Kommunikation und Verhalten entwickeln. Grundsätzlich unterscheidet Kaertner zwischen den materiellen und den immateriellen Faktoren einer Kultur. Das Materielle ist alles, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann, also sieht, hört, riecht, schmeckt und fühlt, das sind unter anderem die Umwelt, die Architektur, die Speisen, die Sprache und Musik, Kleidungsstücke, die Art, wie Menschen miteinander kommunizieren, deren Mimik, Ernsthaftigkeit oder Leichtigkeit. Das Immaterielle sind die Fähigkeiten, die Überzeugungen, die Werte, der Glaube und die Identität. Ist uns eine Kultur sympathisch, können wir uns mit den materiellen Aspekten gut anfreunden, dann verschaffen wir uns einen besseren Zugang zum immateriellen Aspekt, der die Qualität der Kommunikation prägt, wir schärfen somit unsere kulturelle Sensibilität – Cultural Awareness – und interkulturell kompetent sein, fällt dann leichter. «Doch interkulturelle Kompetenz bedeutet auf keinen Fall, dass man alles an der anderen Kultur toll findet und sich verleugnen muss. Aber dank IK könne jeder zumindest eine Zeit lang Ressourcen in sich ­aktivieren, um sich im Umgang mit Menschen einer anderen Kultur wohl genug zu fühlen.

Mehr als «nice to have»

Doch viel zu oft überliessen Unternehmen diese Prozesse dem Zufall und hielten interkulturelle Kompetenz für «nice to have». «Genau aus diesem Grund gehen viele Projekte schief und oft werde ich erst dann gerufen, wenn der Konflikt schon da ist. Vorrang sollte jedoch immer die Arbeit an der eigenen kulturellen Sensibilität haben, denn dort wurzelt der Erfolgsfaktor interkulturelle Kompetenz.» Das gelte übrigens auch dann, wenn einem die andere Kultur sehr nah sei, denn oft stecke der Teufel im Detail: «Auch innerhalb eines Landes gibt es grosse kulturelle Unterschiede. «Als Strassburger würde ich mich auch in punkto regionale Unterschiede vorbereiten, wenn ich geschäftlich nach Biarritz reise. Vor allem die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ist wichtig, denn sonst können schnell Missverständnisse entstehen», so der Experte.

Und ganz wichtig: Wie bei jeder Kommunikation hat man auch bei der interkulturellen Kommunikation in erster Linie mit Menschen zu tun. Und jeder Mensch ist ein Unikat. Es kann sein, dass sich von alleine mehr oder weniger Schnittmengen ergeben – unabhängig von den kulturellen Unterschieden. Durch Interessiertheit und Sympathie eben.

Jean-Frédéric Kaertner

Jean-Frédéric Kaertner ist Unternehmer, bi-kulturell, zertifizierter Coach, Trainer, Gastautor und anerkannter Experte bei einem grossen deutschen Fachverlag. Er setzt fundierte Methoden ein wie NLP, um Fach- und ­Führungskräfte darin zu unterstützen, schnelle und nachhaltige Veränderungen bei sich selbst und für ihr Unternehmen zu erreichen. Seit mehr als 20 Jahren moderiert er Strategieworkshops, coacht Menschen aller Nationalitäten im beruflichen Veränderungsprozess, im interkulturellen Kontext bei Kommunikationsproblemen, bei gefühlten Leistungseinschränkungen oder in destabilisierenden Situationen. Er bietet auch ­systemisches Expat-Coaching für Expatriates und deren Begleitpersonen, damit sie mit gutem Gefühl im Ausland ­ankommen.

jfkaertner.com

 

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Stefanie Zeng ist Online Redaktorin bei Miss Moneypenny. 

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