Work-Life-Balance

Manche Regeln gelten nur für dich

Stressige Zeiten kennt jeder. Was aber, wenn der Stress nie mehr nachlässt? Wenn uns der Job immer mehr Energie kostet, als er uns zurückgibt? Dann ist es Zeit herauszufinden, was man wirklich will – und dafür auch einzustehen. Das macht sonst nämlich niemand für uns.

«Eine Assistentin macht grundsätzlich alles.» So hat eine Assistentin einmal ihren Job charakterisiert. Das sagt einiges aus und heisst in vielen Fällen vor allem eines: Von einer Assis­tentin wird erwartet, dass sie maximal flexibel ist, für Sitzungen bis spät abends Protokoll führt, auf Zuruf reagiert und stets erreichbar ist. Viele Assistentinnen nehmen diese Herausforderung an und üben ihren Job mit an Perfektionismus grenzendem Eifer aus. Eine anonyme Assistentin: Ich habe drei Monate angesparte Ferien, habe schon länger meinen Tanzkurs aufgegeben. Aber ich bin ein absoluter Workaholic. Meine Arbeit ist mein Hobby und ich bekomme so viel zurück. Für mich stimmt es so.» 

Von aussen betrachtet ist die sogenannte Work-Life-Balance in solchen Fällen ganz und gar nicht ausbalanciert. Doch der Eindruck kann täuschen: «Wenn alles gut läuft, gibt es die Trennung von Arbeit und Freizeit nicht. Es liegt dann aber auch kein Problem vor, wenn wir intuitiv das machen, was uns guttut», sagt Psychotherapeutin Bettina Baitsch. 

Solange es keine grossen Veränderungen gibt, ist das auch gut so. Denn die Idee von Work auf der einen und Life auf der anderen Seite, geht nicht ganz auf. «Bei der Arbeit haben wir nämlich nicht nur Momente der Spannung, sondern im Idealfall auch der Entspannung. Gleich wie in der Freizeit. Letztlich geht es nicht um die sogenannte Work-Life-Balance, sondern um eine Balance von Zuständen, die uns einerseits Kraft kosten, andererseits aber auch Energie schenken», sagt Marcus A. Schildknecht, Coach und Trainer.

Wohl jeder kennt eine Mutter, die froh ist, wenn sie an zwei Tagen in der Woche ins Büro kann, weil es für sie pure Erholung ist, einfach Pendenzen abzuarbeiten, ohne dass ein Kleinkind ständig ihre Aufmerksamkeit fordert. Um­gekehrt kann sich ein Job aber auch wie ein Feuer mit mehreren Brandherden anfühlen, die man beständig zu löschen versucht. Wenn das der Fall ist, gehen wir am Abend vollkommen erledigt nach Hause. Dann müssen wir uns die Entspannungsmomente woanders holen. 

Wie viel Entspannung jemand braucht, welche Tätigkeiten entspannend und welche kraftzehrend sind, ist für jeden Menschen anders. Es gibt glückliche Workaholics und solche, die mit 50 Prozent ihr Optimum gefunden haben. 

Immer mehr Stressoren

Also eigentlich alles im Lot? Nicht ganz. Zwar handhabt jeder seine Spannungs- und Entspannungsphasen unterschiedlich. Betrachtet man jedoch die Arbeitswelt als Ganzes, haben sich die Stressoren vermehrt: Es ist hektischer geworden, fast nichts geht mehr langsam. «Noch vor zehn oder sogar fünf Jahren war es weniger gravierend», so Schildknecht. «Vor allem die Informationsflut und der Glaube, diese Informationen seien tatsächlich alle wichtig für uns, machen uns mehr und mehr zu schaffen.» Obendrein verwechseln viele Menschen die Arbeit mit einer Existenzberechtigung und reagieren entsprechend verängstigt, wenn sie befürchten, den Job zu verlieren. «Die Arbeitswelt ist auf das Generieren von Werten ausgerichtet, nicht auf das Wohlbefinden der Arbeitnehmer», sagt Baitsch. 

Das alles verursacht Stress. Und auf Stress reagiert unser Körper mit dem gleichen biologischen Programm, mit dem der Steinzeitmensch reagierte. Adrenalin wird im Körper ausgeschüttet, als ginge es um Leben und Tod. Doch da uns heute keine Bären mehr bedrohen, können wir bei einem Angriff auch nicht kämpfen, wegrennen oder uns tot stellen. Die ausgeschütteten Stoffe werden dementsprechend auch nicht mehr abgebaut. 

Verlorene Wahrnehmung 

Doch wann ist es zu viel? «Es fängt meist harmlos an. Ein bisschen früher ins Büro gehen, Lunch vor dem PC, am Abend noch ein bisschen Arbeit mit nach Hause nehmen», so Schildknecht. Ein paar Monate lang ist das vielleicht auch kein Problem. Doch leider verlieren wir mit der Zeit oft die Wahrnehmung für uns selbst. «Wenn wir über einen zu langen Zeitraum nicht mehr mit unserem Inneren in Kontakt sind, fangen wir an, nur noch zu funktionieren. Oft im Höchstleistungsmodus. Und weil wir dann meinen, in der schrumpfenden Freizeit noch ganz viel «leben» zu müssen, gehen wir über Mittag noch zum Power Yoga und am Abend trainieren wir für den Marathon. Das Anspannungslevel bleibt so dauerhaft zu hoch», erklärt Schildknecht. 

Die Anzeichen dafür, dass es nicht ewig auf diesem Level weitergehen kann, sind leider nicht immer eindeutig: «Das kann der langsame Rückzug aus dem sozialen Umfeld sein, ein subtiles Gefühl von Unwohlsein oder das Verschwinden der Freude», so Baitsch. Gleichzeitig warnt sie, dass in manchen Jobs von Anfang an keine Freude da war und man darum mit Mutmassungen vorsichtig sein solle.

Tipps vom  Coach
 

Selbstwahrnehmung:

  • Hören Sie auf Ihren Körper. Wenn Sie öfters «die Nase voll haben» (erkältet sind), Ihnen etwas «auf dem Magen liegt» (Bauchweh) oder Ihnen «Kopfzerbrechen bereitet» (Kopfweh), dann sind das Zeichen Ihres Organismus, dass etwas nicht stimmt. Nehmen Sie diese ernst.
  • Legen Sie eine Hand auf den Bauchnabel und fühlen Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Atmen hebt und senkt.

Selbstverständnis klären:

  • Bitten Sie Ihre fünf besten Freundinnen und Freunde darum, Ihnen je drei Punkte auf ein Stück Papier zu schreiben, die sie an Ihnen am meisten schätzen: Sie werden sehen, Sie sind toll!
  • Gleichen Sie Ihr Selbstbild regelmässig mit den Fremdbildern ab, die es über Sie gibt, indem Sie Feedbacks von möglichst vielen Menschen aus Ihrem Alltag einholen: Je besser Sie wissen, wer
  • Sie sind bzw. wie Sie gesehen werden, desto sicherer können Sie sich sein.

Verhandeln:

  • Verhandeln Sie nicht über die Positionen, sondern über die Interessen. Finden Sie also heraus, was Ihr Gegenüber wirklich will, und gehen Sie darauf ein.
  • Halten Sie die Beziehung zu Ihrem Gegenüber aufrecht. Wenn die Bereitschaft zur Kommunikation abbricht, ist auch die Verhandlung beendet.

Fakt ist: Wenn Arbeit nur noch als ungeheure Belastung wahrgenommen wird, ist das vor allem eins: Unwahrscheinlich schade. «Der Beruf ist ein zentraler Ort der Identifikation, weshalb das Privatleben oft relativ marginalisiert wird», weiss Bettina Baitsch aus ihrer Praxis. Der Beruf vermittle uns das Gefühl, etwas zu können, zu bieten und zu sein. «Ich will die ­Bedeutung des Privatlebens nicht kleinreden – private Beziehungen sind unersetzbar und sie sind wahnsinnig wichtig für die Regeneration –, aber man kann nicht sagen, das Private sei das Wichtigste. Ausser vielleicht bei Menschen, die nur arbeiten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können», so Baitsch. 

Das lässt den Schluss zu, dass Menschen, bei denen im Job etwas schief läuft, sehr schnell in eine Krise geraten. Das Berufsleben in Balance zu bringen und zu halten, ist also von höchster Wichtigkeit. Dafür sollte man zuerst einmal die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele ergründen. Erst dann kann man überhaupt dafür sorgen, dass diese erfüllt oder zumindest auch von anderen erkannt werden. Und genau das ist der Knackpunkt. «Viele Menschen haben nur noch einen Röhrenblick, die Augen streng aufs Ziel gerichtet und so verlernt, in sich hinein­zuhören», so Schildknecht. Dabei sei Wahr­nehmung etwas absolut Essenzielles auf dem Weg zu einem gesunden Leben. Die Wahrnehmungsfähigkeit lässt sich auch trainieren 

Ohne Verhandlung kein Erfolg

Doch wie kann sich eine Assistentin von einem Chef abgrenzen, der 150 Prozent oder mehr arbeitet. Sie kann ja schlecht um 18 Uhr aus dem Büro spazieren und sagen: «Protokollier doch deine Sitzung selbst!» «Das Thema Fremdbestimmung ist in diesem Job natürlich gross. Und ein Stück weit muss man damit leben, das gehört zum Job», sagt Annette Stoffel von Ascons, die auch die  Ausbildung zur Direktionsassistenz an der WKS Bern leitet. «Trotzdem könne man Spielregeln festlegen, zum Beispiel in Form von Deadlines, bis wann Aufträge abgegeben werden müssen. 

Marcus Schildknecht teilt diese Meinung: «Eine Assistentin ist eine fachlich kompetente Person, die eine Dienstleistung für einen anderen Menschen anbietet. Und wie jeder Dienstleister hat sie ihr Rahmenangebot sowie ihre allgemeinen und speziellen Geschäfts­bedingungen», sagt Schildknecht. «Das kann sich so ausdrücken, dass sie ihrem Chef etwa kommuniziert: ‹Am Freitag gehe ich pünktlich um 18 Uhr nach Hause, mein Sohn kommt dann vom Fussball und mir ist es wichtig, Zeit mit ihm zu verbringen. Wie stellen wir sicher, dass du vorher alle Aufträge rechtzeitig und in gewohnter Qualität von mir bekommst?› Ich weiss, am Anfang klingt das absurd, aber im Alltag ist das völlig normal. Es handelt sich schliesslich um zwei mündige Verhandlungspartner. Wenn aber der eine Partner gar nie Verhandlungen aufnimmt, kann er auch nicht erwarten, etwas zu bekommen. Und wo steht, dass man nicht zusätzlich zum Arbeitsvertrag Abmachungen treffen darf?» 

Es geht also primär darum, zwei oder drei wichtige Fragen, die immer wieder zu Stress führen, anzusprechen und zu klären. «In meinen 18 Jahren als Coach habe ich es hundertmal erlebt, dass meine Klienten voller Angst zu ihrem Chef gegangen sind, um etwas, das ihnen wirklich wichtig ist, zu verhandeln. Und fast alle kamen mit der gleichen Erkenntnis zurück: ‹Das ging ja. Wir konnten ja verhandeln und eine Lösung finden›», erzählt Schildknecht. 

Eigentlich ganz einfach 

Wenn man bedenke, wie Assistentinnen alle möglichen Situationen retten und welche Aufgaben sie stemmen, sollte es ja eigentlich auch möglich sein, für sie persönlich wichtige Dinge mit dem Chef zu klären. «Davon profitiert übrigens auch der Vorgesetzte. Denn er hat dann eine ausgeglichene und leistungsbereite Assis­tentin», sagt Stoffel. 

Natürlich gibt es immer wieder auch Chefs, die davon ausgehen, dass ihre Angestellten stets und ständig zur Verfügung stehen. «Und sie finden auch Leute, die über sich verfügen lassen. Doch die Entscheidung auf den eigenen Willen zu verzichten, obliegt noch immer jedem selbst», sagt Schildknecht. Letztlich ginge es nicht darum, so weit oder so schnell zu rennen wie der Vorgesetzte. Wenn dieser das aber verlangte, kann man sich überlegen, wie lange man noch auf verlorenem Posten weiterrennen wolle. Oder aber zu Plan B übergehen. Bevor es zu spät ist. 

Zum Schluss die Geschichte einer jungen Frau,  die sich über Jahre in einem KMU für ihren Job aufgerieben hatte und letztlich in ein Burnout schlitterte. Sie schrieb ihren Kollegen in einem Mail letztens folgenden Satz: «Ich denke oft daran zurück, ob ich es verhindern hätte können. Und die Antwort ist: Ja, hätte ich! Mit klaren Regeln, die nur für mich gelten!» 

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Stefanie Zeng ist Online Redaktorin bei Miss Moneypenny. 

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