Boreout

Krank vor Langeweile

Für die meisten gehören Stress, Überstunden und Überarbeitung zum Alltag. Dass jemand darunter leidet, nicht genug zu tun zu haben, klingt da wie ein schlechter Witz. Für die Betroffenen aber ist es die Hölle. 

«Ich hatte alle Artikel gelesen, alle PC-Spiele durchgespielt, Online-Kurse gemacht und irgendwann gab es einfach gar nichts mehr, was mir noch eingefallen wäre», erinnert sich die ehemalige Assistentin Maja Egli*. Sie war gut ausgebildet und motiviert – doch in ihrem Job gab es nichts zu tun. «Man hat mich einfach nicht gebraucht», sagt sie heute, «und das ging an die Psyche.» «Das sind ganz klare Zeichen für ein Boreout», sagt Toni Brühlmann, ärztlicher Leiter des ambulanten Zentrums Zürich an der Privatklinik Hohenegg. Er nennt es auch «Ausgelangweiltsein», wenn Menschen durch chronische Unterforderung krank werden.

Tage voller Pseudo-Projekte

Anfangs dachte sich Maja Egli noch nichts dabei, als sie nur noch herumhing. Ihr Chef war wegen Krankheit ausgefallen, als persönliche Assistentin hatte sie keine Aufgaben mehr. Als sich die Situation aber auch nach einem internen Wechsel nicht änderte, wurde sie unruhig. «Der neue Chef wollte alles selber machen, ich war als Assistentin nur zum Vorzeigen da», beschreibt sie die Situation. Aus der gähnenden Langeweile wurde langsam aber sicher eine chronische Unterforderung. Auch Irene Meier* erinnert sich mit Schrecken an ihre Zeit in einem Job ohne fordernde Aufgaben. Sie riss sich um jede noch so kleine Beschäftigung, räumte Schränke auf und die Spülmaschine aus. «Irgendwann kannte ich ja das ganze Internet schon auswendig», erzählt sie. Brühlmann kennt diese Mechanismen der Verbergung, sie sind typisch für ein Boreout. «Die Betroffenen sind beschämt und wollen nicht, dass jemand merkt, was los ist», sagt er. Auch Maja Egli kaschierte, was das Zeug hielt, und sie war damit nicht alleine. «Alle Kollegen haben nur so getan, als würden sie arbeiten. Es gab sogar Pseudo-Projekte und Pseudo-Sitzungen», erzählt sie. 

Doch wer aus taktischen Gründen so tut, als sei er beschäftigt, der facht die Misere nur noch weiter an. Und er muss Schuld auf sich nehmen, wo eigentlich gar keine ist. Denn die Betroffenen selbst können meist nichts für die Zustände. Irene Meier zum Beispiel arbeitete für eine Firma, die noch im Aufbau war. «Es gab einfach noch keinen wirklichen Bedarf für eine persönliche Assistentin des Chefs», sagt sie heute. Maja Egli arbeitete sich dagegen an einem Chef ab, der kaum etwas delegierte. «Der wollte eine Assistentin vor allem aus strukturellen Gründen, zum Vorzeigen. Mehr nicht», sagt sie. Doch selbst wenn den Betroffenen anfangs vielleicht sogar klar ist, dass es nicht an ihnen liegt, werden die meisten irgendwann mürbe. «Das wächst sich zu einer narzisstischen Krise aus », erklärt Brühlmann. Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, ein Gefühl der Wertlosigkeit und der Sinnlosigkeit machen sich breit. Dazu kommen meist auch körperliche Beschwerden. Obwohl die Betroffenen offensichtlich keinen äusserlichen Stress haben, leiden sie an typischen Stresssymptomen wie Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Das kennt auch Irene Meier «Ich war immer müde, obwohl ich tagsüber fast nichts arbeitete», erzählt die Assistentin. Bei Maja Egli ging das Ganze sogar so weit, dass sie physisch krank wurde. «Nach der letzten Kündigung war ich fix und fertig», erzählt sie. Statt an Stress von aussen leiden die Betroffenen unter innerem Stress. «Sie können ja mehr, als sie sollen, und müssen sich die ganze Zeit ausbremsen», beschreibt Brühlmann den inneren Kampf. 

«Irgendwann kannte ich das ganze Internet schon auswendig.»

Entscheidend sei, wie die einzelnen Personen auf die Unterforderung reagieren würden. «Wer dazu neigt, so etwas auf sich zu beziehen, der rutscht in den Boreout», erklärt der Experte. Menschen, die solche Situationen unabhängig von ihrer Person sehen könnten, seien weniger gefährdet. Irene Meier gehört zur Gruppe derer, die damit recht gut umgehen konnten. Zuerst suchte sie aktiv das Gespräch mit dem Chef, wurde aber mit Blick auf den Aufbau des Unternehmens vertröstet. Doch darauf wollte sie nicht warten, denn sie fand die Situation unerträglich. «Ich wusste, dass ich so nicht weitermachen kann und will, und habe mir einen neuen Job gesucht», erklärt sie. 

Vortäuschen bringt gar nichts

Ihr Vorgehen entspricht dem, was Experte Brühlmann im Fall eines Boreouts empfiehlt. An erster Stelle steht für ihn die Ehrlichkeit mit sich selbst. «Man muss akzeptieren, was los ist, und einsehen, dass man da raus muss», sagt er. So zu tun, als wäre man beschäftigt, müsse man sofort einstellen. Danach sei ein Gespräch mit dem Chef oder mit der Personalabteilung angeraten. «Das ist vielen peinlich, aber man muss sich immer sagen, dass es nicht primär an einem selbst liegt.»  Wenn das alles nichts bringe und sich die Situation verschärfe, sei Hilfe von aussen durchaus sinnvoll. Ein Coach kann helfen, die eigenen Möglichkeiten auszuloten, und beim Jobwechsel unterstützen. Einen Therapeuten sollte man hinzuziehen, wenn es psychisch schon ans Eingemachte geht und man starke Selbstzweifel hat. «Mit dem eigenen Selbstwert-gefühl zu arbeiten, kann da viel bringen», weiss Brühlmann. Die meisten Boreout-Betroffenen hätten da eine Vorgeschichte oder Muster, die es anzuschauen gelte. Bei körperlichen Symp-tomen wie Schlaflosigkeit oder Konzentrations-schwierigkeiten kann der Hausarzt weiterhelfen. «Medikamente sind  zwar mit Vorsicht zu geniessen, aber gerade bei Schlafstörungen können leichte Antidepressiva durchaus sinnvoll sein», erklärt Brühlmann.

Wer nicht so einfach den Job wechseln kann, dem empfiehlt Brühlmann, sich etwas Sinnstiftendes ausserhalb des Berufs zu suchen. «Das kann die Familie sein, ein Ehrenamt oder sportliche Erfolge», sagt er. Hauptsache sei, dass der Job nicht mehr so im Mittelpunkt stehe und die Wertigkeit des eigenen Lebens nicht davon abhänge. So sieht es auch Maja Egli mittlerweile, die hauptsächlich aus finanziellen und altersbedingten Gründen lange in den jeweiligen Jobs blieb. Sie hat sich während der beruflich langweiligen Jahre auf ihre Familie konzentriert. Heute will sie nicht mehr als persönliche Assistentin arbeiten, die Abhängigkeit von der Person des Chefs sei ihr zu gross und die Gefahr eines erneuten Reinfalls auch. Irene Meier dagegen ist mit ihrer neuen Stelle sehr glücklich. «Ich wusste nach der Durststrecke genau, was ich brauche, und das habe ich gesucht und gefunden», freut sie sich. 

* Namen geändert

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