Gut ist oft gut genug
Wir sind dazu erzogen, alle Aufgaben immer schön gewissenhaft zu erledigen. Manchmal aber führt das dazu, dass wir übertreiben und alles perfekt machen wollen. Dabei lohnt es sich, auch mal alle Fünfe gerade sein zu lassen. Denn gut ist fast immer besser als perfekt.
Perfektionismus ist ein ziemlich sicheres Mittel, es sich selbst schwer zu machen. Er ist ein verlässlicher Partner, um grossen Stress auszulösen und ein Garant für fast notorische Unzufriedenheit.
Natürlich ist das Streben nach Perfektion nicht grundsätzlich schlecht. Es gibt viele Berufe, in denen man sich eine wahnsinnige Präzision und Detailtreue auf die Fahnen schreiben muss. Wie sonst wünscht man sich einen Flugzeugmechaniker, einen Apotheker oder einen Buchhalter?
Doch von ein paar erforderlichen Ausnahmen abgesehen, schiessen viele Menschen im Namen der Perfektion über das Ziel hinaus. Dann nämlich, wenn das Trachten nach dem Perfekten zu Perfektionismus wird. Von Perfektionismus spricht man, wenn Menschen in ihrem Streben nach Vollkommenheit sozusagen vom rechten Weg abgekommen sind.
Die Psychologin Sybille Wölfing hilft solch gestressten Zeitgenossen in ihrem Seminar «Gut ist besser als perfekt», zurück zu einem gesunden Mass zu finden. «Natürlich hat das Streben nach Perfektion auch sehr viel Positives. Doch wenn Menschen durch dieses Streben immer wieder in grosse Stresssituationen oder gar in Konflikte mit Kollegen geraten, weil sie ihre überhöhten Massstäbe auch bei anderen ansetzen, kann man von Perfektionismus sprechen. Und das ist dann nichts Gutes mehr.» Das Gleiche gilt, wenn Aufwand und wirtschaftlicher Nutzen einer Aufgabe in keinem Verhältnis mehr zueinander stehen.
Für Wölfing gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Perfektionismus auf der einen und Gewissenhaftigkeit auf der anderen Seite. Während letzteres mit Detailtreue und Sorgfalt zu tun hat, ist Perfektionismus auf die falsche Seite gekippt und steht für erbarmungslose Selbstkritik und Ärger (siehe Tabelle).
Arbeitgeber profitieren
Einen Teil des Problems sieht die Psychologin darin, dass wir von klein auf zu Gewissenhaftigkeit erzogen werden. Den Arbeitgebern kommt das zugute. Denn bevor wir Abstriche bei der Qualität unserer Arbeit machen, arbeiten wir meist lieber erstmal länger und intensiver, um auch wirklich alles zu schaffen. «Das ist so lange okay, wie wir nicht dauernd Überstunden produzieren oder andere nerven.»
Perfektionisten leiden eher als andere Menschen darunter, wenn Ressourcen knapper werden und sich mehr Aufgaben auf ihrem Pult stapeln. Denn Abstriche zu machen kommt für sie nicht in Frage. Fatalerweise denken die Chefs dann: «Geht ja.»
Erst wenn eben gar nichts mehr geht, suchen Perfektionisten Hilfe von aussen, erklärt Wölfing. «Sie bekommen dann oft zu hören: Sei doch nicht so perfektionistisch!» Eine heikle Aussage, die viele vor den Kopf stosse, denn sie vermittle: «Du bist das Problem. Du bist ein Perfektionist.» Konkrete Handlungsmöglichkeiten eröffneten sich so nicht. «In meinen Seminaren schaue ich mir darum immer die einzelnen Situationen der Teilnehmer an. Wichtig ist, dass die Leute erkennen, wann sie übers Ziel hinausschiessen. Sie müssen diesen Situationen sozusagen auf die Schliche kommen.»
Ein Beispiel: Kollege Huber will ganz dringend noch eine Offerte bei der Teamassistentin in Auftrag geben. Wie immer auf den letzten Drücker. Als diese sich wehrt, appelliert er an ihre Arbeitsmoral. «Das gehört zu deinem Job.» Sofort fühlt sich die Assistentin schlecht und macht, was von ihr verlangt wird. Während in diesem Fall der Appell funktioniert, werden andere bei jammernden oder drohenden Kollegen schwach. Diese Mechanismen, die dazu führen, dass man mehr arbeitet als man wollte oder sollte, gilt es zu erkennen.
Zwar wird der Kollege weiter moralisieren oder jammern. Daran können wir nichts ändern. «An unserer eigenen Reaktion hingegen schon. Denn zwischen Reiz und Reaktion liegt unsere Freiheit», zitiert Wölfing den bekannten Wiener Psychologen Viktor Frankl.
Zu Beginn der Seminare haben Wölfings Klienten oft Angst, sie müssten von nun an schlechtere Arbeit abliefern. Die Qualität gilt in westlichen Breitengraden als heilige Kuh und so beharren anfangs viele auf hundertprozentiger Genauigkeit. Werden die einzelnen Aufgaben jedoch entflochten, sieht man schnell, dass sich der Aufwand an manchen Stellen ohne grosse Qualitätseinbussen herunterschrauben lässt.
Um das zu erkennen, müssen sich Wölfings Klienten so konkret wie möglich mit den einzelnen Aufgaben auseinandersetzen. Im Abstrakten zu bleiben, fördert nämlich keine Lösung zutage. Die Expertin rät, sich stets die anstehenden Aufgaben anzuschauen und sich zu fragen: Was davon ist heute wirklich mit meinen Ressourcen machbar und notwendig? Und was bedeutet es überhaupt, eine Aufgabe perfekt, gut oder einfach schlecht zu erledigen?
Die 80:20 Regel
Eine spannende Regel in diesem Zusammenhang ist die 80:20 Regel. Auch bekannt unter dem Namen Pareto-Prinzip. Der Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto entdeckte, dass die Verteilung 80:20 immer wieder auftaucht: 20 Prozent der Bevölkerung besitzen 80 Prozent des Reichtums, 20 Prozent der Kunden eines Unternehmens machen 80 Prozent des Umsatzes aus und 20 Prozent der Websites im Internet machen 80 Prozent des Datenvolumens aus.
Stark vereinfacht und auf die Arbeit übertragen heisst das: In 20 Prozent der Zeit erreichen wir schon 80 Prozent der Ergebnisse. Ein Beispiel: Bei einer Präsentation sind die Inhalte in der Regel schnell eingefügt. Anschliessend verbringen aber viele Menschen sehr viel Zeit damit, die Präsentation zu formatieren. Auf der Suche nach der perfekten Darstellung jedes einzelnen Elements vergehen Stunden um Stunden. Dabei sieht die Präsentation in der Regel schon nach zwanzig Prozent der Zeit zu achtzig Prozent gut aus. Die letzten zwanzig Prozent, die für das Optimum fehlen, verbrauchen nochmal deutlich mehr Zeit. Der Nutzen: verhältnismässig gering.
Natürlich funktioniert das nicht in allen Bereichen. Ein paar Feuerwehrleute in Wölfings Seminar fragten lakonisch, ob das bedeute, sie sollten die kleinen Häuser abbrennen lassen. Auch beim Chirurgen ist eine zu 80 Prozent erfolgreiche Operation kein erstrebenswertes Ergebnis. Aber um Leben oder Tod geht es in den meisten Jobs selten. Und wenn wirklich einmal etwas versäumt oder ein Fehler begangen wurde, lässt es sich in vielen Fällen nachholen oder korrigieren.
Es gilt also insgesamt: hier und da den Aufwand ein bisschen drosseln, sich auch mal mit Ergebnissen zufrieden geben, die gut und nicht perfekt sind. Der Gewinn durch abermaliges Verbessern von etwas bereits Gutem existiert oft nur für denjenigen, der die Arbeit macht.
Und in manchen Bereichen müssen wir schlicht damit leben, nicht alles erledigen zu können. E-Mails, die uns ungefragt geschickt werden und deren Inhalt schlicht uninteressant ist, müssen nicht unbedingt beantwortet werden. Ein neues Konzept muss nicht für die erste Diskussion schon bis ins kleinste Detail ausgefeilt werden.
Dazu kommt, dass jeder Arbeitnehmer ein Stück weit die Verantwortung dafür trägt, welche Aufgaben überhaupt bei ihm landen. «Gerade Assistentinnen sind in ihrer Schnittstellenfunktion nicht nur Befehlsempfänger und müssen die Ansprüche anderer erfüllen. Sie sind oft auch diejenigen, die die Fäden in der Hand halten und so ihre Arbeit steuern können», weiss Wölfing.
Zielstrebig sein und gern und viel zu leisten ist das eine. Aber das andere ist zu lernen, wann es genug ist, seine Bedürfnisse zu kennen und Verantwortung dafür zu übernehmen.