premium Interview mit Beatrice Beck Schimmer

«Die Blindheit nicht fortsetzen»

Prof. Dr. Beatrice Beck Schimmer, Direktorin Universitäre Medizin an der Universität Zürich, steht am Assistants’ Day 2024 als Keynote-Speakerin auf der Bühne. Im Gespräch erklärt sie, warum ein geschlechtsneutrales Universalkonzept in der Erforschung und Behandlung von Krankheiten nicht länger tolerierbar ist.

Die US-Amerikanerin Marianne Legato stellte als Kardiologin in den 1980er-Jahren Unterschiede von Herzerkrankungen bei Frauen gegenüber Männern fest. Warum hat es in der Medizin so lange gedauert, diese Erkenntnis zu erlangen?
Beatrice Beck Schimmer: Lange Zeit war der medizinische Prototyp der Mann, als Patient, aber auch als Arzt und Forscher. Erschwerend kam hinzu, dass nach dem Contergan-Skandal Frauen von klinischen Studien oft ausgeschlossen wurden. Contergan war ein rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel, das bei Schwangeren gegen Übelkeit eingesetzt wurde, jedoch zu schweren Fehl­bildungen von Neugeborenen führte. Zudem: In der Grundlagenforschung wird nach wie vor mehrheitlich an männlichen Mäusen geforscht. Hier wird argumentiert, dass der hormonelle Zyklus einen Einfluss auf das Testergebnis haben könnte. Um die ­Wissenslücke in der geschlechtsspezifischen Medizin zu schliessen, braucht es mehr Forschung und klinische Studien mit Frauen.

Existieren spezifische Krankheiten, bei denen sich die Symptome und der Krankheitsverlauf zwischen den Geschlechtern besonders unterscheiden?
Bei vertiefter Untersuchung lassen sich für viele Krankheiten geschlechtsspezifische Unterschiede finden. Die Spitze dieses Eisbergs bilden die bekannten Erkrankungen wie zum Beispiel Herzinfarkt, Depression und Osteoporose.

Und worauf ist das zurückzuführen?
Für das Beispiel Herzinfarkt sind die unterschiedlichen Symptome bei Frauen und Männern auf biologische Faktoren zurück­zuführen. Die genauen Gründe dafür sind jedoch nicht bekannt. Männer fühlen einen Schmerz, in den linken Arm ausstrahlend, während es Frauen eher übel wird und sie Bauchschmerzen haben. Bei der Depression spielt neben den biologischen Faktoren auch der soziokulturelle Aspekt eine wichtige Rolle. Wenn ein Mann an Depression erkrankt, dann zeigt er zum Teil ein aggressives ­Verhalten, während bei Frauen eher ein Rückzug zu beobachten ist. Das entspricht auch dem gesellschaftlichen Rollenbild, was aber dazu führt, dass die Depression bei Männern oft erst spät diagnostiziert wird.

Was versteht man unter Gendermedizin?

Nach Professorin Vera Regitz-Zagrosek ist Gendermedizin eine Medizin, die davon ausgeht, dass Gesundheit und Krankheit auch durch das Geschlecht mitbedingt werden. Sie berücksichtigt sowohl das biologische als auch das soziokulturelle Geschlecht. Gendermedizin wendet sich an alle Menschen, an Frauen und Männer und Menschen mit diversem Gender.

Was hat Ihr persönliches Interesse an der Gendermedizin geweckt? Gab es ein bestimmtes Erlebnis, das Ihre Sicht auf die Gendermedizin stark beeinflusst hat?
Für Anästhesistinnen und Anästhesisten ist die Dosierung von Medikamenten ein wichtiges Thema. Ab 1997 wurde die kontinuierliche Verabreichung des Narkotikums Propofol möglich, und zwar nicht nur nach Alter, Gewicht und Grösse, sondern auch unter Berücksichtigung des Geschlechts. In der Anästhesie wurde zum ersten Mal ein Medikament auch nach Geschlecht dosiert und somit die unterschiedliche Körperzusammensetzung von ­Männern und Frauen berücksichtigt. Fazit: Der Verlauf einer Anästhesie ist je nach Geschlecht unterschiedlich, da sich Medikamente anders im Körper verteilen. Zum Beispiel benötigen Frauen bei derselben Narkosetiefe eine höhere Dosis an Propofol als Männer. Dieser Unterschied in der Dosierung hat mich unter anderem zum Nachdenken angeregt und mich auf das Thema der Gender­medizin sensibilisiert.

Welche aktuellen Forschungsergebnisse in der Gendermedizin haben Sie besonders beeindruckt?
Gerade während der Coronapandemie erlebte die Forschung in der Gendermedizin einen Aufschwung. Es konnte gezeigt werden, dass die COVID-19-Erkrankung bei Mann und Frau unterschiedlich verläuft. Männer hatten einen deutlich schwereren Verlauf und COVID-19 führte bei ihnen häufiger zum Tod als bei Frauen. Warum das so ist, wissen wir nicht. Aufgrund des soziokulturellen Hintergrunds waren die Frauen jedoch durch die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen stärker der Ansteckung mit dem Virus ausgesetzt, was zu wiederholten Infektionen führte.

Die Universität Zürich hat seit Mai 2024 den ersten Lehrstuhl für Gendermedizin in der Schweiz, um diese Forschung voranzutreiben. Was ist das Ziel dieses Lehrstuhls?
Die neu geschaffene Professur soll die geschlechtsspezifischen Aspekte in den klinischen Studien und der Grundlagenforschung fördern helfen. Professorin Carolin Lerchenmüller, die neue Lehrstuhlinhaberin, wird nicht nur ihre eigene Forschung in der Kardiologie am Standort Zürich vorantreiben, sondern auch ein Netzwerk mit Kolleginnen und Kollegen aufbauen. Ziel ist es, in allen Fachbereichen die geschlechtsspezifische Forschung voranzutreiben.

Was kann getan werden, um das Bewusstsein für die Bedeutung der Gendermedizin zu erhöhen?
In den letzten Jahren habe ich viele Vorträge zum Thema Gendermedizin gehalten. Das Bewusstsein für biologische Unterschiede in der Medizin ist stark gestiegen, nicht nur bei den Ärztinnen, Ärzten, Patientinnen und Patienten, sondern auch bei Politikerinnen und Politikern. Aktiv eingefordert wird das Wissen um die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin von den Studierenden. Wir planen weitere Veranstaltungen, an denen verschiedenen Interessengruppen, aber auch die breite Öffentlichkeit teilnehmen kann. Aktuell haben wir den Podcast «Warum Gendermedizin allen nützt» veröffentlicht. 

Welche Rolle spielen neue Technologien wie künstliche Intelligenz und Big Data in der ­Gendermedizin?
Die Medizin von heute ist datengetrieben und personalisiert. Wir sprechen von Präzisionsmedizin. Zurzeit bauen wir am Standort Zürich eine Biomedizininformatik-Plattform auf, die eine moderne Datensicherung und den Datenaustausch zwischen Forschenden ermöglicht. Nur so wird es möglich sein, mehrere Hundert bis Tausend Parameter gleichzeitig abzurufen und mithilfe von künstlicher Intelligenz zu analysieren. Das Geschlecht spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Blutgruppe, das Gewicht oder andere Gesundheitsdaten. Wir erhoffen uns davon innovative Behandlungskonzepte, die den Patientinnen und Patienten, aber auch der Gesunderhaltung zugutekommen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Gendermedizin in den nächsten zehn Jahren?
Strahlend und spannend zugleich. Für die Bündelung der Kräfte in der Gendermedizin spannen die fünf Medizinischen Fakultäten der Schweiz nun zusammen und gründen eine Dachstruktur. Das bringt Schwung in die Forschung und schliesslich mehr Präzision in die Gesundheitsversorgung. Wir sind auf einem guten Weg, die Gendermedizin weiterzuentwickeln.

Beatrice Beck Schimmer

Beatrice Beck Schimmer studierte Humanmedizin an der Universität Bern und habilitierte im Jahr 2003 an der Universität Zürich. Von 2005 bis 2018 arbeitete sie als Leitende Ärztin am Universitätsspital Zürich und ab 2009 zusätzlich als ordentliche Professorin für Anästhesiologie, wo sie in der Grundlagenforschung und in der klinischen Forschung tätig ist. 2018 ist sie in die Universitätsleitung Zürich gewählt worden und ist somit erste Direktorin des Netzwerks Universitäre Medizin Zürich.

Keynote: «Gendermedizin: Warum geschlechtsspezifische Daten und Forschung wichtig sind»


Professorin Beatrice Beck Schimmer erläutert, was es mit Gendermedizin auf sich hat. Sie zeigt auf, warum die Universität Zürich dieses Querschnittsfach fördert und den ersten Lehrstuhl für Gendermedizin der Schweiz eingerichtet hat. Da viele Erkrankungen sich je nach Geschlecht unterschiedlich äussern, ist Gendermedizin keine reine Frauenmedizin, sondern eine geschlechtssensible oder -spezifische Medizin, die auch den Männern zugutekommt.

  • Ort: Assistants' Day 2024, Kongresshaus Zürich, Kongresssaal
  • Zeit: Dienstag, 3. September 2024. 11:00 Uhr
  • Anmelden unter: assistantsday.ch
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