Cancel Culture – die Macht der Masse
Das Phänomen hat sich längst etabliert: Einzelpersonen und ganze Organisationen werden für ihre Äusserungen oder Handlungen öffentlich kritisiert. Oft intensiv und so lange, bis sie sozial, beruflich und ökonomisch ausgeschlossen sind. Cancel Culture heisst dieses Phänomen. Sensibilität, Grosszügigkeit und Dialoginteresse öffnen die Tür zu einer toleranteren Kommunikation.

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Unterschiedliche Meinungen, Kritik oder Debatten gehören zur Kommunikation und sind wichtig. Meinung muss und darf sein; Kritik muss und darf erlaubt sein. Wer streitet, ist in Kontakt, und Debatten sind lebendig. Wo also liegt das Problem?
In der Ausgrenzung, die Menschen in die Isolation drängt, in der Überheblichkeit zu wissen, was richtig und falsch, was wahr, gelogen und was moralisch korrekt ist. In den sozialen Medien finden sich Gruppen und Plattformen, die rasend schnell urteilen und scharf schiessen gegen alles, was ihrem Kodex, ihrer Wahrheit widerspricht. Cancel Culture beschreibt die dunkle Seite einer Kommunikationskultur, die von Angst, Zensur und Vergeltungsmassnahmen geprägt ist. Soziale Medien ermöglichen es, in kurzer Zeit Massen zu bewegen. Diese Masse glaubt, im Recht zu sein, für Gerechtigkeit oder eine gute Sache einzustehen.
Die Welt der Extreme
Menschen, die sich politisch und öffentlich positionieren, laufen Gefahr, ausgeschlossen zu werden, weil sie sich äussern, Position beziehen und damit sicht- und angreifbar werden. Zur menschlichen Kommunikation gehört die Spontaneität. Wir alle haben schon mal Dinge ausgesprochen oder geschrieben, die nicht durchdacht waren, spontan eben. Und genau das kann leicht zu Cancel Culture führen; nicht nur auf der grossen gesellschaftlichen Bühne, sondern auch im engen familiären Umfeld oder am Arbeitsplatz. Wer offen und ehrlich ist, seine Meinung sagt und es wagt, gegen den Strom zu schwimmen, geht das Risiko ein, «gecancelt» zu werden.
Sind Offenheit, Ehrlichkeit, Transparenz und Vielfalt keine nützlichen kommunikativen Tugenden mehr? Man könnte es meinen, denn wir leben in einer Gesellschaft der Extreme. Dazu gehören Diskriminierung, Zurechtweisung, Bestrafung, Überheblichkeit, wenig Grosszügigkeit und mangelnde Ausdauer im Umgang mit anderen Meinungen und Standpunkten. Auch Euphorie oder Personenkult gehören zu diesen extremen Bewegungen. Urteile werden schnell gefällt, was eine scheinbare Sicherheit vermittelt. Urteile sind scharfe Linien, Grenzen – wer diese überschreitet, gehört stillgelegt. Gut so. Alles wieder in Ordnung.
Die Folgen für Menschen und Unternehmen, die Blossstellung oder Ausgrenzung erleben, sind gravierend. Und doch steckt in Cancel Culture ein positives Motiv: Menschen und Organisationen sollen Verantwortung übernehmen für ihre Taten. Das geschieht bei Cancel Culture jedoch ohne Dialog, Toleranz oder Grosszügigkeit. Die Kommunikation ist laut, unerbittlich, einseitig und wiederholend. Das alles überzeugt sehr viele Menschen und mobilisiert die Masse. Was man ständig hört, muss wahr sein – ein fataler Irrtum.
Produktiver Austausch ist der Schlüssel
Befassen wir uns mit dem positiven Motiv von Cancel Culture und beleuchten gute Lösungen für eine Kommunikation des Wachstums und nicht der Zerstörung. Ein paar Impulse für Gespräche und Texte:
- Grosszügigkeit: Verzichten Sie auf Moral in Gesprächen und Texten. Moral kennt böse und gut und damit Verlierende und Gewinnende. Wer will schon verlieren? Moral ist also auch eine Kampfansage. Beispiel: Sie sind in einem Gespräch mit jemandem, der Sie anschreit. Sie stören sich daran und fordern Ihr Gegenüber auf, sofort das Schreien einzustellen. Und Sie hängen eine Bedingung an Ihren Appell. Hört das Schreien nicht auf, beenden Sie das Gespräch. Tipp: Seien Sie grosszügiger, indem Sie das Schreien als wertvolle Informationsquelle wahrnehmen. Wer laut wird, hat ein Anliegen. Es geht um ein Thema, nicht automatisch um Sie als Person. Oder vermitteln Sie Kontakt und Sicherheit, indem Sie Ihrem Gegenüber sagen, dass Sie zuhören und da sind. Wer das hört, kann seine Stimme senken.
- Toleranz: Achten Sie auf absolute und zu direkte Aussagen wie «Sie haben ... nicht ...» oder «Ganz klar: Das ist daneben!» Sprechen und formulieren Sie feiner und passen Sie die Sprache und die Wortwahl dem Kontext an. Cancel Culture lebt von absoluten und gleichförmigen Statements. Toleranz ist die Kompetenz, seine eigene Meinung zu haben und gleichzeitig mit einem Gegenüber oder der Welt verbunden zu sein. Tolerante Kommunikation lebt von «und» und weniger von «aber».
- Mehr Sensibilität: Sprache ist nie absolut oder allgemein gültig. Sie wird vielmehr kulturell und situativ verstanden. In meinen Workshops bitte ich die Teilnehmenden, zwischen den Zeilen zu lesen oder in einem Gespräch auf den Klang der Stimme zu achten. Beispiel: Wer das Wort «gerne» ungern ausspricht, macht seine innere Haltung zu diesem Begriff hörbar – unsere Stimme offenbart sehr viel. Wer sich die Zeit nimmt, zwischen den Zeilen zu lesen, löst sich von der Wortwahl und erkundet mehr das Motiv und das Bedürfnis der schreibenden Person. Tipp: Trainieren Sie Ihre Sensibilität und fragen Sie nicht sofort KI nach einer passenden Formulierung. Üben Sie Selbstreflexion. Was macht Sie zugänglich in Ihrer Kommunikation und was behindert Ihre Empathie oder Ihr Interesse an Kontakt?
- Ist das Gute immer gut? Zu dieser Frage fällt mir das Buch von Klaus Eidenschink ein. Es heisst «Das Verunsicherungsbuch – Warum das Gute auch schlecht ist». Kürzlich waren sich viele Coaches, Beraterinnen und Experten auf einer Online-Plattform einig, dass Alkohol böse sei. Es gab Likes ohne Ende und gegenseitige Bestätigungen. Wer Alkohol trinkt, habe ein Problem, verpasse das gute, erfüllende Leben. Irgendwann gab es einen Gegenpost: Jemand berichtete von schönen Momenten mit Alkohol und gab sogar noch zu, Fleisch zu essen. Es gab zwar keine Cancel Culture, aber einige Kommentare waren bissig und rechthaberisch. Wissen wir immer, was gut ist, und ist das Gute immer das Beste für mich?
- Laut ist noch keine Meinung: Achten Sie bei Kundinnen und Kunden, Arbeitsteams oder im Privatleben auf die Lautstärke und auf Verstärkungen in der Sprache. Begriffe wie «nie», «ständig», «immer», «dauernd», «wieder» sind Anzeichen von XXL-Kommunikation. Fragen Sie nach, um herauszufinden, ob hinter den lauten Tönen etwas Wichtiges steckt, das Ihre Aufmerksamkeit braucht. Beispiel: «Sie sagen, ich hätte nie Zeit. Wann ist Ihnen das aufgefallen?» Die Frage ist etwas provokativ, aber hilfreich, weil sie Ihr Gegenüber aus dem Konzept bringt, aus einem Muster herausholt. Warten Sie die Antwort ab und entscheiden Sie, wie Sie damit umgehen.
- Dialog ist anspruchsvoll: Auf die Pauke hauen ist einfacher und meist weniger anstrengend als Gespräche, Zeit und die Bereitschaft, sich für ein paar Augenblicke auf ein Thema, eine Person oder eine Gruppe einzulassen. Wer im Dialog ist, pendelt zwischen der eigenen und der Meinung des Gegenübers. Wenn wir das tun, wissen wir zwar um unseren Standpunkt, sind aber dennoch bereit, die Dinge aus Sicht des Gegenübers zu sehen. Der Autor Claus Otto Scharmer spricht in seinem Buch «Theorie U – Von der Zukunft her führen» von den vier Ebenen des Zuhörens. Die meisten Menschen praktizieren bewusst oder unbewusst das «Downloaden». Wir hören etwas und beginnen sogleich, unser Wissen darüber «downzuloaden». Negativer Effekt: Wir verhärten, bleiben in unseren Wahrheiten stecken und wenden uns vom Gegenüber ab. Positiver Effekt: Wir trainieren Dialogkultur. Kurz vor der deutschen Bundeskanzlerwahl ist mir das in einem TV-Duell zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz aufgefallen. Das «Duell» war ein Gespräch. Schnell, konfrontativ, offen, zwischendurch humorvoll und an keiner Stelle diffamierend oder pöbelnd. So machen Kontroverse Spass.
Ob im privaten Rahmen, öffentlich oder am Arbeitsplatz. Es ist möglich, Cancel Culture durch «Inviting Culture» zu ersetzen. Und wer cancelt, muss bereit sein, die Verantwortung dafür zu tragen.