Alle Wege führen zur Belohnung
«Ein Laster braucht der Mensch.» Dieser Satz entschuldigt vieles: das sechste Feierabendbier, die Zigarette danach, den Nervenkitzel am Spielautomaten. Alles legal, alles gesellschaftsfähig, alles Drogen fürs Gehirn. Willkommen auf der Achterbahn zwischen Genuss und Gewissen.
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«Keine Macht den Drogen»: Liest man diese Aussage, hat man sofort bestimmte Bilder im Kopf. 20-Jährige, die mit Pilzli experimentieren, ein Banker, der im Büro-Bad genüsslich Kokain durch die Nase zieht, oder eine Person vom ominösen Strassenstrich, die sich die nächste Dosis Heroin spritzt. Diese Suchtmittel sind in der Schweiz weitestgehend verboten. Woran man bei Drogen nicht sofort denkt, ist der Ex, der sich aufgrund des Alkoholrausches nicht mehr an den Anruf vom gestrigen Abend erinnert, ein Kind, das den Aufstand probt, wenn es nicht am Tablet-Computer spielen darf, oder ein Kollege, der stündlich rausgeht, um den Nikotinspiegel aufrechtzuerhalten.
Abhängig machende Substanzen sind in unserer Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern teils auch angesehen. Wieso trinkt die Kollegin beispielsweise heute keinen Wein beim Apéro; ist sie schwanger, fragt man sich? Dass Alkohol heute so etabliert ist, hat viel mit unseren kulturellen Gepflogenheiten zu tun. So besitzt die Herstellung von Alkohol beispielsweise in vielen Ländern eine lange Tradition. Seit dem ersten Jahrhundert nach Christus wird in der Schweiz Wein angebaut, Bier ist sogar einige hundert Jahre länger bekannt. Auch der Konsum von Tabakprodukten oder das Glücksspiel sind gesellschaftlich akzeptiert.
Das Spiel mit dem Dopamin
Die Wirkungsweise der meisten vorneweg genannten Substanzen läuft nach dem gleichen Schema ab. Der Schlüssel hierzu ist das Belohnungszentrum im Gehirn beziehungsweise die Aktivierung dessen. Alkohol wie auch Zucker oder auch das Erreichen eines neuen Levels beim Handyspiel sind dafür verantwortlich, dass Dopamin freigesetzt wird. Dieser Wirkstoff ist auch als das «Glückshormon» bekannt und aktiviert das Belohnungssystem, das signalisiert: «Das war gut, das wollen wir wieder!» Bei wiederholter Aktivierung prägt sich das Gehirn ein: Diese Substanz oder dieses Verhalten ist wichtig; manchmal sogar wichtiger als Essen, Schlaf oder soziale Kontakte. Wer sich hier nicht selbst regulieren kann, landet im Ernstfall in einer Abhängigkeit.
Wenn eine Abhängigkeit das einzig Problematische wäre, könnten wahrscheinlich viele die Thematik mit dem Spruch «Ein Laster braucht der Mensch!» abtun. Jedoch gibt es noch weitere Auswirkungen auf den Körper und dessen Funktionsweisen. Ein Beispiel, das vielen nicht bewusst ist, liegt im Bereich der Abhängigkeit nach Computer- oder Glücksspielen. Den Verlust von Geld und Lebenszeit aussen vor gelassen, konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Studie zeigen, dass beim regelmässigen Spielen auf dem Handy oder am Computer der orbitofrontale Kortex kleiner wird. Das ist eine Region im Gehirn, die Emotionen und Impulse reguliert. Das bedeutet, dass die Fähigkeit abnimmt, sich selbst zu sagen, dass man besser aufhören sollte, um sich anderen, wichtigeren Aufgaben zu widmen.
Stoffe, die das Gehirn verändern
Mit dem Aufhören im richtigen Moment ist es bei anderen Substanzen auch nicht so einfach, beispielsweise beim Alkohol. Dieser ist ein Nervengift, das in die Kommunikation zwischen den Nervenzellen eingreift und über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangt. Dort verschiebt das Gift das Gleichgewicht zwischen dem hemmenden Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure) und dem anregenden Neurotransmitter Glutamat. Die Rezeptoren, an die die GABA andockt, werden verstärkt aktiviert, die Rezeptoren für das Glutamat blockiert. Das führt kurzfristig zu Enthemmung und Gelöstheit, langfristig ist das Gehirn aber im Ungleichgewicht und anfälliger für Unruhe und Ängstlichkeit, da es stets versuchen wird, das gestörte Gleichgewicht wieder auszugleichen.
Der Grund: Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wird die Anzahl der Glutamat-Rezeptoren erhöht. Es ist also immer mehr Alkohol nötig, um dessen gewünschte Effekte herbeizuführen, da es nun ja mehr Glutamat-Rezeptoren lahmzulegen gilt. Zudem kann ein langfristig erhöhter Glutamat-Spiegel dazu führen, dass die Nervenzellen angegriffen werden, was zu Gedächtnisstörungen und Konzentrationsproblemen führen kann.
Nikotin ist ebenfalls eine Substanz, die im Gehirn für Veränderungen verantwortlich ist, und ist zusätzlich die Substanz, die auf Platz drei der am stärksten abhängig machenden Drogen liegt – nach Heroin und Kokain. Nikotin dockt an spezielle Rezeptoren an, die teils für den körpereigenen Botenstoff Acetylcholin gedacht sind. Diese Rezeptoren sitzen unter anderem im Belohnungszentrum und sorgen dafür, dass Dopamin ausgeschüttet wird.
Das Ergebnis: ein kurzer Kick, gesteigerte Konzentration und ein Gefühl von Entspannung. Im Gegensatz zum Acetylcholin bindet Nikotin jedoch länger an den Rezeptoren und stimuliert die Nervenzellen dadurch auch länger. Das Problem: Das Gehirn reagiert auf die regelmässige Nikotinzufuhr, indem es mehr dieser Rezeptoren bildet. Man braucht also mehr Nikotin, um sich normal zu fühlen. Bleibt das Nikotin aus, entsteht ein Ungleichgewicht.
Der Wolf im Zuckerpelz
Die meistens Menschen wissen, dass ein erhöhter Alkohol- oder Tabakkonsum zum eigenen Nachteil führt. Nicht so bekannt sind jedoch die schädlichen Effekte des Zuckers. War Süsses in vergangenen Tagen ein Indikator für schnelle Energie, leben wir mittlerweile meist im Überfluss. Zucker ist allgegenwärtig und wird oft nicht als Droge wahrgenommen. Doch die Mechanismen im Gehirn ähneln verblüffend denen von anderen Suchtstoffen, denn Zucker kann die gleichen Areale aktivieren wie Drogen oder sexuelle Erregung.
Zudem wird beim Genuss zuckerhaltiger Nahrung das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. So kann ein erhöhter Konsum von Zucker neue Nervenverbindungen entwickeln, die ein stärkeres Verlangen nach Süssem hervorrufen; das Gehirn gewöhnt sich also auch hier leicht an die Einflüsse von externen Substanzen. Die wahre Macht des Zuckers enthüllt sich aber in seiner Abwesenheit: Wer darauf verzichtet, erlebt Entzugserscheinungen, die denen von Opiaten verblüffend nahekommen – Unruhe, Angst und ein bohrendes Verlangen. Die Wissenschaft spricht bei Zucker zwar selten von einer echten Abhängigkeit, sondern eher von problematischem Essverhalten, jedoch sind die Grenzen fliessend.