Staatlich verordnete Gleichstellung
Wie aus dem Nichts taucht Ruanda in Statistiken wie dem Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums in den vordersten Rängen auf. Doch wie ist das möglich? Antworten hat Journalistin Barbara Achermann, die sich in Ruanda auf Spurensuche begeben und ein Buch über das aufstrebende Land geschrieben hat.
Barbara Achermann, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Ruanda im Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums besser als die Schweiz abschnitt?
Ich war erstaunt. Auf den vordersten Plätzen waren die üblichen Verdächtigen zu finden, die skandinavischen Länder, die für ihre Gleichstellungspolitik bekannt sind. Doch bereits an fünfter Stelle lag Ruanda, ein Land, das ich bisher vor allem mit Mord und Totschlag in Verbindung gebracht hatte.
Was bewog Sie, nach Ruanda zu reisen?
Ich begann zu recherchieren und ahnte immer mehr, dass Frauen in diesem Land Grosses geleistet haben müssen. Das wollte ich mit eigenen Augen sehen und ich wollte mit den Menschen vor Ort reden.
Was haben Sie erwartet, dort anzutreffen?
Nach meinen Vorrecherchen wusste ich natürlich bereits, dass das Land nicht mehr in Schutt und Asche lag. Zudem habe ich als Journalistin bereits aus verschiedenen Ländern des südlichen Afrikas berichtet. Ich wusste von der Armut und den starken Gegensätzen zwischen Stadt und Land. Doch von Ruanda hatte ich lange ein sehr düsteres Bild. Als ich 1994 die Kantonsschule in Schaffhausen besuchte, hielten zwei Klassenkameradinnen einen Vortrag über den damals aktuellen Völkermord in Ruanda. Sie erzählten, dass innerhalb von drei Monaten eine Million Menschen umgebracht worden waren, und zeigten uns Fotos der Leichenberge. Das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Die Fakten sprechen für sich: Ruanda ist weltweit Nummer eins in Sachen Lohngleichheit, 64 Prozent der Parlamentarier sind weiblich, es gibt eine Mutterschaftsversicherung. Worüber wir immer wieder diskutieren und Jahrzehnte brauchen – Ruanda macht es einfach. Ein Armutszeugnis für die Schweiz?
Nein, die beiden Länder sind nicht wirklich vergleichbar. In Ruanda wurde die Gleichberechtigung von oben, also von der Regierung, verordnet. Das ist in einem autoritären Staat möglich, aber selbstverständlich nicht nur positiv. Gleichzeitig gab es eine starke Emanzipationsbewegung, die von den Witwen der ermordeten Männer ausging. Vor dem Genozid hatten die Frauen kaum Rechte. Sie durften kein Land pachten und weder erben noch öffentlich sprechen. Nach dem Völkermord waren sehr viele Männer tot, ausser Landes geflohen oder im Gefängnis. Es wird geschätzt, dass unmittelbar nach dem Genozid 70 Prozent der Bevölkerung weiblich waren. Deshalb mussten von einem Tag auf den anderen die Frauen die Arbeiten der Männer übernehmen. Sie waren gezwungen, für sich selbst zu sorgen, sonst hätten viele von ihnen nicht überlebt.
An der Spitze des Kleinstaats steht ein Präsident-Diktator, der sich sehr entschlossen für Frauenrechte einsetzt. Wie viel des wirtschaftlichen und frauenrechtlichen Fortschritts ist ihm zu verdanken?
Schwer zu sagen. Für die einen ist Paul Kagame ein visionärer Führer, für die anderen ein Despot. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat er seit Beginn seiner Präsidentschaft forciert. Man munkelt, seine Frau habe ihn in dieser Hinsicht stark beeinflusst. Punkto Wirtschaftswachstum hat er vieles richtig gemacht. Etwa früh auf eine schnelle Internetverbindung im ganzen Land gesetzt, damit sich die Leute selber bilden und helfen können.
Wird ein Ziel wie der Frauenanteil in den Chefetagen in Ruanda nicht freiwillig erreicht, drohen staatliche Eingriffe wie eine Frauenquote. Brauchen auch wir mehr Diktatur?
Frauenquoten sind doch nicht mit einer Diktatur gleichzusetzen. Der Ständerat basiert ja auch auf einer Quote, damit alle Kantone im Parlament vertreten sind. Ausserdem wissen wir, dass es einen Gender Bias gibt und Frauen als weniger kompetent wahrgenommen werden und dadurch Nachteile erleiden. Ein Beispiel: Erst nachdem das Boston Symphony Orchestra seine Bewerberinnen und Bewerber hinter einem Vorhang vorspielen liess, schafften es mehr Frauen ins Orchester. Davor wurden Männer bevorzugt, obwohl sie keinen Deut besser waren. Weil man sich jedoch als CEO oder für einen Verwaltungsratsposten nicht hinter einem Vorhang bewerben kann, machen vorübergehende Quoten durchaus Sinn.
Was hat Sie am «Frauenwunderland» am meisten beeindruckt?
Die Resilienz der Frauen und Männer. Ihre Gabe, an einem schrecklichen Unglück wie dem Genozid zu wachsen und in einem unglaublichen Tempo einen in vielen Aspekten vorbildlichen Staat aufzubauen. Hinzu kommt die Tatsache, dass unzählige Opfer ihren Tätern vergeben haben und die junge Generation nichts mehr vom Hass zwischen Hutu und Tutsi wissen will.
Und welche Erfolgsgeschichte ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Beeindruckt war ich von der Kaffeeproduzentin Epiphanie Mukashyaka, die beim Genozid ihren Mann und eines ihrer acht Kinder verloren hat. Ihr kleiner Laden und ihr Haus wurden zerstört. Sie hat sich davon aber nicht unterkriegen lassen und von den Notrationen der Caritas etwas Hirse gespart und daraus Bier gebraut. Vom Geld, das sie damit verdiente, hat sie Kaffeebohnen gekauft und einen kleinen Handel aufgebaut. Das Geschäft ist immer weiter gewachsen. Heute bezieht sie ihren Kaffee von zehntausend Kleinbauern in der Region und exportiert diesen in die ganze Welt. Bufcoffee heisst ihre Firma.
Die Chancen, die sich Frauen in Ruanda eröffnen, klingen fast zu traumhaft. Was sind die Schattenseiten?
Auf dem Land ist die Gleichberechtigung oft noch nicht angekommen. Dort gibt es noch sehr viel Gewalt gegen Frauen. Auch die Hausarbeit und die Pflege von alten oder kranken Angehörigen sind dort ganz klar Frauensache.
Würden Sie dauerhaft in Ruanda leben?
Für ein paar wenige Jahre könnte ich mir das schon vorstellen. Dauerhaft möchte ich aber nicht auf die Privilegien verzichten, die wir hier in der Schweiz haben.
Zum Buch und zur Person
Vor nicht allzu langer Zeit konnten Frauen in Ruanda weder ein Bankkonto eröffnen noch durften sie in der Öffentlichkeit sprechen. Heute sitzen in Ruanda mehr Frauen im Parlament als in jedem anderen Land der Welt. Über 50 Prozent der Unternehmen sind in Frauenhand. Ohne die Frauen wäre das rasante Wirtschaftswachstum Ruandas nicht möglich gewesen. In ihrem Buch «Frauenwunder» schildert Barbara Achermann, wie das rasche Wirtschaftswachstum und die Emanzipation der Frauen das Land zu einem der fortschrittlichsten des afrikanischen Kontinents gemacht haben.
Frauenwunderland, Barbara Achermann, Reclam, 2018, 184 Seiten.
Barbara Achermann, 40, ist Redakteurin im Ressort Schweiz bei der Wochenzeitung «Die Zeit». In den vergangenen Jahren berichtete sie regelmässig aus dem südlichen Afrika. 2016 erhielt sie für ihre Reportage über Ruanda den Schweizer Medienpreis «real21 – Die Welt verstehen».