Richtiges Deutsch

Präteritum und drumherum

Schweizer sprechen im Perfekt von Vergangenem. Auch, wenn das Präteritum angebracht wäre. Das ist ok so. Selbst in der schriftlichen Alltagskommunikation klingt das Präteritum nämlich inzwischen hochgestochen. Meist ist Perfekt perfekt.

Was ist der «turning point», der Schlüssel, das wichtigste Element eines Satzes? Richtig: das Verb, früher auch Tätigkeitswort, Zeitwort genannt. Die Hauptfunktion des Verbs im Satz besteht darin, das Prädikat zu bilden – und von dem sind alle anderen Satzteile abhängig. Jede Erzählung, jede Art von Kommunikation spielt sich zudem in einer bestimmten Zeit ab. Es spielt eine grosse Rolle, ob ich mache, ob ich machte oder ob ich gemacht hatte … Während aber früher die Grenzen klar abgesteckt waren, fliessen sie heute immer mehr ineinander über. Zeit, Klarheit zu schaffen.

Eigentlich ist es so: Mit den grammatischen Zeiten gibt man den relativen zeitlichen Abstand zwischen dem Zeitpunkt eines Geschehens und dem Zeitpunkt, zu dem darüber berichtet wird, an. Es ist an den grammatischen Zeiten ablesbar, ob ein Geschehen vergangen ist, gerade stattfindet oder erst in Zukunft zu erwarten ist. Im Deutschen gibt es für die Vergangenheit zwei Formen: das Präteritum und das Perfekt. In der Schweiz gibt es eigentlich nur (noch) das Perfekt. Einen Schweizer kann man demzufolge nicht nur am hörbaren Mundarteinschlag, sondern auch daran erkennen, dass er im Perfekt spricht. Die «einfache Vergangenheit», auch Präteritum oder Imperfekt genannt, existiert nämlich zwischen Biel und Schaffhausen einfach nicht.

Die Sprache der Märchen

Es war einmal die Vergangenheit. So beginnt klassischerweise ein Märchen, und das Verb ist in der Vergangenheit konjugiert. Das Präteritum (früher auch Imperfekt, Vergangenheitsform oder Mitvergangenheit genannt) liegt zeitlich vor dem Perfekt und beschreibt ein abgeschlossenes Geschehen. Du ranntest, er lachte oder es regnete sind Beispiele für Verben im Präteritum. Gute Beispiele finden sich dafür in Legenden und Märchen: Eine arme Prinzessin lebte einsam in einer Hütte. Hinter der Hütte war ein Stall, darin standen zwei Pferde. Es ist die häufigste Form in Romanen, Erzählungen, Geschichten. Die Per-sonalpronomen «du» und «ihr» werden im Präteritum sehr selten benutzt (du lerntest, ihr lerntet heissen dann du hast gelernt, ihr habt gelernt), da diese Personen ausschliesslich in der gesprochenen Sprache, also im Perfekt, Anwendung finden. Das Präteritum dient auch zur Darstellung unausgesprochener Gedanken: Er sinnierte vor sich hin: Wie konnte das geschehen?

Das Präteritum besitzt seine eigene, spezielle Form. Perfekt und Plusquamperfekt («mehr als Perfekt») hingegen sind aus anderen Formen zusammengesetzt. Das Perfekt bezeichnet ein vergangenes Geschehen, das bis heute andauern kann. Es wird vor allem in der gesprochenen Sprache, aber auch in Briefen oder für News benutzt. Gebildet wird das Perfekt mit den Präsensformen der Hilfsverben sein oder haben und dem Partizip II. Wir haben um 13 Uhr angefangen Lunch einzunehmen (heisst: Wir essen immer noch). Das Perfekt kann aber auch ein Geschehen ausdrücken, das vor der Gegenwart liegt: Er ist zum Fluss gefahren, wo er jetzt rudert. Das Perfekt wird meistens in der Umgangssprache benutzt – auch dann, wenn eigentlich das Präteritum gemeint ist. Ihr habt geweint tönt besser als ihr weintet  …

Wer hochgestochen klingen will …

In der Schweiz herrscht das Perfekt auch für die abgeschlosse Vergangenheit, praktsisch kaum mehr die einfache Vergangenheit Präteritum. Meine Freundin hat einen Kuchen gemacht. Das Kind ist am Sonntag früh aufgewacht. Alles, was sich vor der Vergangenheit (Perfekt oder Präteritum) abgespielt hat, wird in der Zeitform Plusquamperfekt ausgedrückt: Obwohl er tagelang fleissig geübt hatte, fiel er durch die Prüfung.

Fazit: In der Schweiz wird das Präteritum immer seltener und praktisch nur in der Schriftsprache eingesetzt. In der Alltagssprache, auch schriftlich, klingt es oft hochgestochen, das Präteritum zu verwenden. Wer sich gewählt ausdrücken möchte, kann selbstverständlich darauf zurückgreifen. Auch in Deutschland ist das Präteritum übrigens in der Alltagskommunikation hauptsächlich noch im Norden zu Hause. Gegen Süden verschwindet es immer mehr, wie in der Schweiz. Meist ist der Perfekt also perfekt. 

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Philippe Rey ist dipl. Texter und Konzepter, ausgebildeter Dolmetscher und beschäftigt sich hobbymässig mit «Funktionaler ­Syntax».

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