Porträt

Miss Tausendsassa

Wenn in der Oper eine Solistin auf der Bühne und eine Dame im Publikum den gleichen Stoff tragen, dann hatte Myriam Kirschke ihre Hände im Spiel. Als Assistentin des Technischen Direktors im Opernhaus Zürich hat sie Zugang zu einem besonderen Schatz: der Kiste mit Stoffresten aus der Kostümabteilung. Aus den edlen Relikten fertigt sie Handtaschen an. So wird aus einem Stück Jacquard eines Kostüms ein Teil einer Opera-Clutch.

Myriam Kirschke ist von Königinnen umgeben. Sie steht in ihrem Showroom in Stäfa, um sie herum sind Charlotte, Joséphine, ­Mathilde und Isabeau angeordnet. Es sind Taschen ihrer eigenen Marke korpus delikti. «Kein Beweisstück in einem Mordfall, aber ein Beweis für Stil!», so der Slogan. Nur Frida tanzt aus der Reihe. Ihr Name ist nicht royal. «Aber er gefällt mir so gut», sagt Kirschke. Ein Konzept darf gebrochen werden. Künstlerische Freiheit.

Myriam Kirschke ist eine Getriebene. Getrieben von ihrem eigenen Kopf, der ständig plant, Ideen spinnt, an Konzepten feilt und einen unglaublichen Tatendrang verursacht. «Das war schon immer so», sagt sie. Der Kopf stellt nicht ab, bevor die Hände handeln. Durch ihr ganzes Leben schon zieht sich ein roter Faden von Kreativität, die sie im Moment vor allem durch Taschen ausdrückt.

Es sind grosse Shopper für den Alltag, in denen gut ein Ordner, ein Laptop und abends beim Einkaufen auch noch ein Salatkopf und ein Liter Milch Platz haben, klassische Handtaschen oder kleine Beautybags, die im Showroom stehen. «Taschen müssen einfach und unkompliziert sein», findet die Designerin. Die korpus-delikti-Königinnen haben neben dem grossen Hauptfach nur wenige Zusatzfächli. Was sie aber zu etwas ganz Besonderem macht, ist ihr Material: stilvolle Kombinationen aus verschiedenen Stoffen, uni, farbig, bedruckt, manchmal seidig schimmernd, manchmal edel weich. Myriam Kirschke verarbeitet Stoffresten. Sehr edle Resten allerdings: von Stoffen, aus denen im Opernhaus Zürich die Kostüme für die Sänger und Tänzer genäht werden.

Ausser Dienst

  • Dafür habe ich einmal viel Mut gebraucht: Meinen ersten Schultag
  • Darüber muss ich lachen: Getunte Autos
  • Daran erinnere ich mich gerne zurück: Märchentheateraufführungen
  • Das möchte ich gerne lernen: Stepptanz und Akkordeon
  • Das bringt mich zum Staunen: Flora und Fauna
  • Mein grösstes Laster: Genuss
  • Das wollte ich als Kind werden: Architektin oder Moneypenny    
  • Diese Tugend halte ich für überschätzt: Zurückhaltung
  • Diese Person würde ich gerne einmal kennenlernen: Dr. No

Roter Faden verbindet Unikate

An diese Trouvaillen kommt Myriam Kirschke dank ihrem Beruf. Sie ist im Opernhaus As­sis­tentin des Technischen Direktors. Als es in der Kostümabteilung einmal einen Engpass gab, hat sie für kurze Zeit ausgeholfen und dabei eines Nachmittags die riesige Kiste mit den Stoffresten entdeckt. Ein Glücksmoment. «Ich war begeistert von den wunderbaren, hochwertigen Materialien und fand es eine Sünde, dass sie da so rumliegen. Der Gedanke, dass sie weggeworfen werden könnten, war fürchterlich für mich. Was für eine Verschwendung!» Myriam Kirschke nahm ein paar besonders schöne Streifen mit nach Hause und überlegte, was sie daraus machen könnte. Wenige Monate später, im Jahr 2007, war die erste Kollektion für korpus delikti fertig.

Seit damals wühlt Myriam Kirschke, die sich ihr Handwerk autodidaktisch aneignete, regelmässig in der Kiste. Sie fühlt die Stoffe, sucht, findet. Manchmal ist es ein Stück von nur fünf bis zehn Zentimeter, das es ihr antut. Ein Abschnitt aus dem Stoff von Don Carlos Kostüm beispielsweise. Oder eine Ecke der Seide, die Dornröschen im gleichnamigen Ballett trug.  Einige von Kirschkes Kundinnen haben eine Tasche nur gekauft, weil sie wusste, aus welchem Stück der Stoff stammt. «Ich habe ­speziell eine Opera-Clutch entworfen, weil mir die Idee gefällt, dass die Kundinnen den Stoff so in die Oper zurücktragen.»

Oft sind die Stoffresten so klein, dass sie nur für eine Tasche reichen. So schafft Myriam Kirschke Unikate. Denn zwar gleichen sich die Fridas und Charlottes in der Form, jede ist aber aus anderem Stoff, hat eine andere Farbe. Das Einzige, was sie verbindet, sind knallrote Nähte. Kirschke fädelt nur roten Faden in ihre Nähmaschine. Er ist ihr Markenzeichen. «Rot ist die schönste Kontrastfarbe. Sie hat Kraft und Energie, tut aber nie weh.» Auch ihre Haare sind rot. Schon seit 25 Jahren.
 

Moneypenny des Opernhauses

Das Opernhaus ist nicht nur wegen der wertvollen Resten-Kiste ein Grund für korpus ­delikti. Die Oper selbst ist Inspirationsquelle für Kirschke. «Ohne Oper wäre das alles gar nicht möglich. Sie inspiriert mich extrem. Die Bilder auf der Bühne, der Klang – durch sie entstehen Formen vor meinem geistigen Auge.» Kein Wunder, mag sie ihren Job, Teil des grossen Opernhaus-Teams zu sein, das hinter der Bühne die Fäden spinnt.

Kirschke hat in ihrer beruflichen Laufbahn vieles ausprobiert. Sie sei neugierig und offen, sagt sie von sich. Einmal hat sie aus reiner Solidarität zum Chef gekündigt, weil dieser auf unschöne Weise entlassen wurde. «Der Job ist wichtig, aber Menschen sollten sich nicht zu sehr von ihm abhängig machen. Für mich ist meine Unabhängigkeit zentral.» Die Kreativität sei ein Ausgleich zum Job. «Aber ich brauche immer beide Seiten. Ich mag Gegensätze.»

Also auch das Planerische, das ihr das Opernhaus bietet. «Zur Technischen Direktion gehören rund 250 Mitarbeitende von Beleuchtungsmeistern, Hutmachern über Technische Projektleiter bis zu Maskenbildnern.» Kirschke kennt man. Sie ist seit neun Jahren im Haus und darum Auskunfts- und Drehpunkt für vieles. «Ich bin sehr gut vernetzt, von der Putzfrau bis zur Direktion. Darum bin ich oft Ansprechperson.»

Doch nicht nur. Manchmal sieht sie sich auch als Vermittlerin. Sie kennt die Stimmung im Team, weiss von den Sorgen einzelner Mitarbeitender, von Plänen der Geschäftsleitung. Diese Nähe sei eine Schwierigkeit ihres Jobs: «Es ist manchmal nicht leicht, wo ich auf menschlich-moralischer Ebene die Grenzen ziehen muss, auch für mich selber.»

Zur Person

Myriam Kirschke ist als jüngstes von vier Kindern in Uster aufgewachsen. Sie hat bei der Post die Ausbildung zur Assistentin absolviert, eher den Eltern zuliebe. Eigentlich wollte sie Architektin werden. In ihrer Berufslaufbahn hat sie einen Ballett-Shop geführt, im Musikhaus Jecklin Klaviere verkauft, die Ausbildung zur Masseurin absolviert und eine eigene Massagepraxis geführt, das Office Management bei zwei IT-Firmen gemacht, Asylsuchende betreut und ist jetzt seit neun Jahren Assistentin des Technischen Direktors im Opernhaus Zürich. Die Assistentin mit grossem kreativem Flair hat die Handelsschule und ein Nachdiplomstudium in Event-Management abgeschlossen. Myriam Kirschke ist 43 Jahre alt und wohnt mit ihrem Partner in Stäfa.

Viele Freiheiten

Als Assistentin hat sie engen Kontakt zum Technischen Direktor. Vor nicht langer Zeit gab es eine Rochade. «Der Vorgänger des jetzigen Technischen Direktors war ein Chef im klassischen Stil. Ich war wortwörtlich seine rechte Hand, habe alle seine Mails getippt. Er hat mir diktiert oder ich habe stundenlang seine handgeschriebenen Notizen entziffert und Übersetzungen gemacht.» Mit seiner Pensionierung ging auch für Kirschke eine Ära zu Ende. Ihr neuer Chef ist jung, schnell, modern. «Und ich wurde von der Sekretärin zur Assistentin.» Sie lacht. Es sei eine grosse Umstellung gewesen, aber Spass machen ihr beide Funktionen. «Heute sehe ich mich vor allem als Puffer. Ich versuche, meinen Chef zu entlasten, indem ich viel abfedere. Ich filtere die Anfragen und Informationen für ihn. Wo ich kann, gebe ich selber Auskunft oder verweise an die richtige Stelle. So kann ich vieles für ihn erledigen, ohne dass er direkt involviert wird.»

Der Titel Vorzimmerdame passe gar nicht so schlecht. «Ich sitze tatsächlich in einem grossen Vorzimmer, das wegen einer Kaffeemaschine und einem zentralen Drucker auch Treffpunkt ist. Ich stelle darum auch regelmässig Guetzli, Früchte und Süssigkeiten bereit.» Wenn morgens aber zu viel dreckiges Geschirr rumstehe, könne sie auch mal zum Vorzimmer-Drachen werden. Myriam Kirschke ist im Teilzeit-Pensum angestellt – mit Jahresarbeitszeit. «Mein Job gibt mir viel Freiheit. Es ist ein schöner Arbeitsplatz mit viel Toleranz für meine kreativen Flips.»

Kreativ ohne Chaos

korpus delikti ist einer dieser kreativen Flips. Zusammen mit ihrem Partner hat die Assistentin in einem 300 Jahre alten Flarzhaus in Stäfa das «Atelier im Kehlhof» ins Leben gerufen. Ursprünglich ein Einrahmungsatelier mit Werkstatt, dient es dem Paar inzwischen auch als Wohnhaus. Ein Rundgang durch das Haus zeigt, dass Myriam Kirschke ihre Kreativität nicht gerne auf eine Kunstform beschränkt. Sie malt, fotografiert, designt Logos und macht Grafikdesign für Kunden. Bis vor kurzem hat sie im ersten Stock des Einrahmungsateliers noch einen Kunstraum betrieben. Dafür fehlt inzwischen der Platz. Aber ab Januar 2014 wird Kirschke Kuratorin der Villa Grunholzer in Uster.

Auch zusammen mit ihrem Lebenspartner ist sie kreativ. Sie haben einen Wechselrahmen für Polaroid-Fotos entwickelt, den P-Frame, und kreieren Wohnbeiwerk wie Tische, Kerzen­ständer oder Spiegel. Trotz der vielen Projekte ist überall aufgeräumt, alles hat seinen Platz. Wie die zwölf Puppen, die schön aufgereiht im ­Atelier sitzen, «für ein Projekt, das ich erst im Kopf habe», sagt Kirschke. Es gibt nur eines, um diesen Ideenfluss in ­ihrem Kopf zu unterbrechen: einen Aufenthalt im Maiensäss in der Surselva. Hoch oben in den Bergen, ohne Strom und Luxus. «Das ­Leben dort dreht sich um die Basics wie ­Nahrungszubereitung, Wasserholen und Holz­hacken. Das erdet extrem.»

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