«Die Leichtigkeit ist vielerorts verloren gegangen»
Covid-Massnahmen beeinflussen die Psyche der Menschen und damit auch jene der Arbeitnehmenden. Hanna Steinmann und Maya Spillmann, Co-Präsidentinnen der Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ZGPP), über die Folgen – und was jeder Einzelne dagegen tun kann.
Welche Auswirkungen haben die Covid-Massnahmen auf die menschliche Psyche?
Hanna Steinmann und Maya Spillmann: Die Mehrheit der Bevölkerung meisterte die Covid-Massnahmen sehr gut und genoss die Entschleunigung. Inzwischen haben sich jedoch Ermüdungserscheinungen eingestellt. Die reduzierten physischen Kontakte, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die geschlossenen Geschäfte sowie die reduzierten Sport- und Freizeitaktivitäten schlugen vielen aufs Gemüt. Die Leichtigkeit ist vielerorts verloren gegangen. Da in der Schweiz psychische Erkrankungen schon vor Corona zu den meistverbreiteten Krankheiten gehörten, ist es wenig verwunderlich, dass die Pandemie Probleme bei vorbelasteten Menschen verstärkte. Besonders gelitten haben Menschen, die durch die Krise in existenzielle wirtschaftliche Not gerieten sowie Jugendliche und junge Erwachsene, die sich mitten in einer wichtigen Entwicklungsphase befinden.
Die Jüngeren leiden somit mehr?
Ganz klar. Die Sotomo-Studie vom Juli 2021 zeigt, dass die Situation gerade für 20- bis 25-Jährige sehr schwierig war. Viele ihrer Zukunftspläne fielen ins Wasser und sie mussten sich neu orientieren. Statt die Welt zu entdecken, blieben sie zu Hause. Isolation, Einsamkeit und finanzielle Sorgen waren die Folgen. Stressempfindungen sowie Emotionen wie Wut und Ärger haben deshalb während der Pandemie bei den jungen Erwachsenen zugenommen. Die Fallzahlen in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie sind im vergangenen Jahr ebenfalls stark gestiegen. Zudem nahmen mehr suizidgefährdete Menschen Beratungen in Anspruch.
Welche Langzeitfolgen haben die Pandemie-Massnahmen?
Gerade jüngere Kinder haben eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt: Mitmenschen wurden für sie plötzlich zur potenziellen Gefahr. Zudem galten sie selbst als gefährlich und als jemand, der anderen ungewollt Schaden zufügte. Das könnte zu einem erhöhten Misstrauen führen. Auch können sich vermehrt soziale Ängste einstellen. Wissenschaftlich ist dieser Zusammenhang jedoch nicht belegt. Rückschlüsse lassen sich aber aus vergangenen Pandemien ziehen, in denen sich Menschen in längeren Phasen aus Eigen- oder Fremdschutz isolierten. Etwa aus der SARS-Epidemie im Jahr 2003, bei der Menschen häufiger unter Angstsymptomen, Schlaflosigkeit oder allgemeinen Stresssymptomen litten. Einige entwickelten nach der Pandemie sogar depressive Symptome.
Die Folgen der Pandemie haben somit auch einen Einfluss auf den Arbeitsalltag. Was können Arbeitnehmende tun, um psychisch gesund zu bleiben?
Regelmässige körperliche Aktivität ist das Beste, was man für seinen Körper tun kann, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben. Der soziale Austausch mit Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsort oder im Privaten sind zudem für die psychische Gesundheit bedeutsam. Ebenso der schonende Umgang mit den eigenen Kräften und Ressourcen, ein genügend hohes Mass an aktiver Erholung durch regelmässige körperliche Aktivität, beispielsweise durch Wandern, Sport treiben, mit Freunden Zeit zu verbringen, aber auch passivem Ausruhen.
Wie sieht es bei Vorgesetzten aus?
Arbeitgebende mussten Homeoffice propagieren und haben selbst oft darunter gelitten. Hinzu kamen finanzielle Belastungen und Sorgen. Bei einigen hat sich zudem die Angst eingeschlichen, die Kontrolle und den Kontakt zu den Mitarbeitenden zu verlieren. Ein Austausch unter Arbeitgebenden trägt deshalb dazu bei, zu merken, dass sie mit diesen Gefühlen nicht allein dastehen.
«Für unser Wohlbefinden sind Kontrolle und Klarheit entscheidend»
Arbeitgebende nehmen vermehrt eine «dumpfe Stimmung» und eine Erschöpfung der Mitarbeitenden wahr. Was Firmen dagegen tun können, erklärt Maike Debus, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Neuchâtel.
Hat sich die psychische Verfassung von Mitarbeitenden seit Pandemie-Beginn verschlechtert?
Maike Debus: Ja und nein. Dazu gibt es sogar wissenschaftliche Untersuchungen. So befragte eine Arbeitsgruppe der Universität Basel in der «Swiss Corona Stress Study» rund 10'000 Schweizerinnen und Schweizer zu ihrem Stresserleben. Gemäss einer Befragung nach dem ersten Lockdown fühlte sich die Hälfte der Befragten gestresster als vor der Corona-Krise. Zudem verdreifachte sich die Häufigkeit schwerer depressiver Symptome. Gleichzeitig fühlte sich ein Viertel der Befragten im Lockdown aber weniger gestresst. Zu ähnlichen Resultaten kamen auch wir in einer gemeinsamen Studie mit der Universität Zürich. Mit unserer Studie fokussierten wir uns jedoch ausschliesslich auf die arbeitnehmende Bevölkerung, die wir im April 2020 befragten. Eine Erklärung für diese unterschiedlichen Befindlichkeiten? Beispielsweise, dass einige Personen ihre Arbeit weiterhin «normal» verrichteten und durch die aktuelle Situation mehr beansprucht wurden als jene, die von zu Hause arbeiteten und die verringerte Pendelzeit als Gewinn erlebten. Die jetzige «dumpfe Stimmung» lässt sich vermutlich auf die lang anhalte Unsicherheit und Unklarheit zurückführen und die Tatsache, dass lange Zeit kein «Ende in Sicht» war. Für unser psychisches Wohlbefinden müssen wir jedoch Kontrolle und Klarheit erleben.
Was können Mitarbeitende im Arbeitsalltag tun, um psychisch gesund durch die Krise zu kommen?
Beim Arbeiten im Homeoffice die Pausen nicht vergessen: Viele neigen dazu, sich den Terminkalender zu voll zu planen, da man virtuell leicht von einem Meeting zum nächsten wechselt. Arbeitnehmende sollten Pausen bewusst planen und diese einhalten. Diese wiederum sollte man mit Aktivitäten füllen, die einen Ausgleich schaffen. In der Erholungsforschung gibt es das Konzept des Abschaltens. Das heisst, eine mentale und örtliche Distanzierung von der Arbeit zu schaffen. Je besser Personen in ihrer Freizeit abschalten, desto besser ist ihr psychisches Wohlbefinden. Das wiederum beeinflusst ihre Leistungsfähigkeit. Empfehlenswert sind Tätigkeiten, in denen wir uns mental «verlieren», bei denen wir neue Dinge lernen, bei denen wir uns entspannen können und die wir frei gewählt haben. Beispielsweise Fremdsprachen, Töpfern oder soziale Aktivitäten, durch die wir andere unterstützen.
Inwiefern hilft die Arbeit, psychisch gesund zu bleiben?
Arbeit hat einen ganz wichtigen Stellenwert in unserem Leben. Nebst dem Einkommenserwerb sprechen wir in der Psychologie von sogenannt latenten Funktionen der Arbeit. Dazu gehört, dass Arbeitstätigkeit uns eine Zeitstruktur gibt, Sozialkontakte ermöglicht und Status sowie Identität vermittelt. Dadurch sind Arbeitstätige psychisch gesünder als arbeitslose Personen.
Wer ist besonders gefährdet, psychisch zu erkranken?
Vor allem Arbeitstätige, die beispielsweise im Tourismussektor arbeiten und deren Arbeitsplätze gefährdet sind, aber auch Pflegefachkräfte und jüngere Arbeitnehmende, die vor dem Eintritt ins Berufsleben stehen.
Welche Langzeitfolgen haben die Pandemie-Massnahmen auf unsere Psyche – und damit auf die Arbeitswelt?
Viele Menschen haben in der Pandemie zu sich selbst gefunden und ihre Werte, Interessen und Einstellungen hinterfragt. Wer schon früher eher unzufrieden mit seinem Job war, hat diese Zeit für eine Neuorientierung genutzt. Wir haben zudem gelernt, flexibler zu agieren und zu handeln. Unternehmen müssen deshalb die Art und Weise, wie sie arbeiten, überdenken und vermutlich mehr Zugeständnisse an ihre Mitarbeitenden machen (beispielsweise Homeoffice anbieten), um attraktive Arbeitgebende zu bleiben.
Dieser Artikel erschien zuerst im Fachmagazin HR Today Nr. 11/2021