Was ist überhaupt Kunst?
Über die Frage, was Kunst ist, diskutieren Experten und Laien wahrscheinlich schon so lange, wie es Kunst gibt. Die Auseinandersetzung füllt ganze Buchregale. Und eins sei vorweg verraten: Die eine Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Aber genau das macht sie so spannend.
Um was geht es?
Fällt der Begriff «Kunst», denken viele direkt an Hochkultur, berühmte Gemälde in Museen, an Galerien oder Versteigerungen mit wahnsinnigen Erlösen. Kurz: an das Besondere und Aussergewöhnliche. Aber man kann sich dem Begriff Kunst auch anders nähern. «Im Grunde geht es hier um ein Grundbedürfnis. Jeder Mensch möchte kreativ sein, sich Ausdruck verleihen – Kunst schaffen», erklärt Prof. Dr. Bettina Gockel, die an der Universität Zürich den Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst innehat. Nach diesem Ansatz ist Kunst für jeden Menschen von grundlegendem Interesse und grosser Bedeutung und hat nicht unbedingt mit Bildung, Institutionen oder Geld zu tun.
Doch die Frage, was Kunst ist, betrifft eben doch den Bereich der Hochkultur, denn sie hat eine gesellschaftliche Dimension. Was als Kunst begriffen und bezeichnet wird, erhält Wertschätzung, gilt als besonders und wird sozusagen geadelt. Dabei unterliegt das, was als Kunst bezeichnet wird, immer einem Wandel. «Menschen handeln miteinander aus, was sie für Kunst halten und was nicht», erklärt die Professorin. Institutionen wie Kunstakademien und Kunstmuseen, aber auch Kunstkritik, suchen nach Kriterien oder Ausschlusskriterien, um zu bestimmen, was Kunst ist. Immer angepasst an die jeweilige Zeit und das jeweilige gesellschaftliche Klima. «So werden Ordnungsschemata definiert und es wird festgelegt, was gerade Kunst ist und was nicht», beschreibt Prof. Dr. Bettina Gockel den Vorgang. Ein gutes Beispiel für einen solchen Prozess aus jüngerer Zeit ist die Fotografie. Sie galt lange als Handwerk und gerade die Farbfotografie wurde als Massenmedium aufgefasst und nicht als Art des künstlerischen Ausdrucks. Aber Fotografen hatten immer das Bestreben, die Fotografie als künstlerisches Medium zu definieren und haben sich dafür selbst einem regelrechten Korsett unterworfen, um sich vom Gewöhnlichen abzuheben. «Künstlerische Fotografie sollte bis in die 1960er-Jahre schwarz-weiss sein», erzählt die Expertin. Mit dieser Definition gelang der Fotografie die Anerkennung in der Kunstwelt und sie konnte sich weiterentwickeln: Heute zählen auch farbige Fotografien zu Meisterwerken.
Wer hat’s erfunden?
Die ältesten bekannten Kunstwerke stammen aus der Steinzeit. Weltweit haben Archäologen Höhlenmalereien oder Schnitzereien entdeckt, einige sind bis zu 45 000 Jahre alt. Die ältesten dieser Werke wurden in Asien und Europa entdeckt, aber auch in Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent sind sie zu finden. «Das Spannende ist, dass einige dieser Werke der Vorzeit schon ästhetischen Gestaltungswillen zeigen», sagt Prof. Dr. Bettina Gockel. Auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel wurde eine rund 38 000 Jahre alte Figur aus Elfenbein gefunden. Die sogenannte Venus vom Hohlefels zeigt eine Frau mit überdeutlichen Geschlechtsmerkmalen. Auch wenn man nicht genau weiss, welche Funktion die Figur hatte und warum sie geschnitzt wurde, ist für die Expertin klar, dass es sich hier um Kunst handelt. «Die spezifische ästhetische Gestaltung hatte ganz sicher eine Funktion für sich. Und ich denke, an dem Punkt beginnt Kunst», erklärt Prof. Dr. Bettina Gockel.
Aber so ganz gefällt der Expertin die rein historische Antwort auf die Frage nach dem Anfang von Kunst nicht: «Die Frage sollte besser heissen, wer hat was wann erfunden?» Denn ein Bestandteil von Kunst sei eben auch, sich immer wieder neu zu erfinden. «Gerade die moderne Kunst hat immer wieder solche Schübe», sagt die Professorin. Vor Andy Warhol hätte wohl niemand Konsumgüter zu Kunst erklärt und auch die Aktionskunst von Joseph Beuys war etwas ganz Neues. «Darin liegen schon Aspekte des Aufsehenerregenden, der Abgrenzung zur Tradition, der Einmaligkeit. Solche Strategien sind auch Bestandteil der Kunst», erklärt Prof. Dr. Bettina Gockel.
Wofür braucht man Kunst?
«Jeder Mensch hat eine schöpferische Ader und braucht Kunst, um sie zum Ausdruck zu bringen», sagt Prof. Dr. Bettina Gockel. Selbst wer das selbst nicht aktiv könne, sehe oder bewundere die Kunst anderer. «Kunst an sich führt ein in ein anderes Denken», ist sich die Expertin sicher. Bei der Betrachtung von Kunst fielen die Menschen aus ihren Rollen und erlebten einen Raum der Entspannung, Inspiration und Entlastung. Neben dem ästhetischen oder schöpferischen Aspekt ist Kunst aber auch eine Form der Kommunikation. Künstler teilen sich über ihre Kunstwerke mit, Kunstbetrachter wiederum lesen die Botschaften und verändern sie durch ihre eigene Wahrnehmung. «Kunst hat eine enorme symbolische und emotionale Bedeutung», so die Expertin. Gleichzeitig habe Kunst aber auch oft eine ganz direkte Funktion: «Kunst kann Propaganda sein, Liebhaberobjekt oder Ausdruck von Revolution». Kunst kann also auch benutzt werden für einen ganz bestimmten Zweck, und das vom Künstler, vom Auftraggeber, vom Besitzer oder vom Betrachter.
Was bringt Kunst?
«Kunst involviert Menschen unterschiedlicher Art mit unterschiedlichen Rollen», erklärt Prof. Dr. Bettina Gockel. Kunst verbinde demnach und eröffne gleichzeitig Räume der Auseinandersetzung. «Gerade in der Pandemie ist deutlich geworden, wie wichtig diese sind und was passiert, wenn diese Räume wegfallen», betont sie.
Kunst führe aber auch zu symbolischer und materieller Wertschöpfung, wenn man das ganze System mit den Kulturinstitutionen und der Kulturpolitik betrachtet. Kunst, oder besser Kunstwerke, können sehr teuer sein. Aber der rein materielle Wert mache sie nicht aus, erklärt Prof. Dr. Bettina Gockel: «Kunst verwandelt Geld in ein symbolisches Kapital.»
Macht Kunst auch Probleme?
Ein Problem der Kunst ist nach Ansicht der Expertin, dass es viele Menschen gibt, die dazu keinen Zugang haben. Ein Ausstellungsbesuch ist nicht für jeden selbstverständlich und oft eine Frage der Bildung und auch des Geldbeutels. Und das, obwohl Institutionen, Schulen und Universitäten hier einen klaren Bildungsauftrag haben. «Es hat mich immer beeindruckt, dass zum Beispiel Museen in London keine Eintrittsgelder verlangen, sondern zu einer Spende einladen», sagt Prof. Dr. Bettina Gockel. Auch in den Schulen gäbe es zu wenig Unterricht zur Kunstgeschichte und zum Umgang mit Bildwerken. «Ich finde, jede und jeder sollte Zugang zur Kunst haben, weil jeder Mensch ein Künstler ist», sagt Prof. Dr. Bettina Gockel, ganz frei nach Joseph Beuys.
Zur Person
Prof. Dr. Bettina Gockel ist Lehrstuhlinhaberin für Geschichte der bildenden Kunst an der Universität Zürich. Sie leitet die Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie und hat soeben das Buch «The Colors of Photography» (Berlin: De Gruyter) herausgegeben.