Fehlerkultur

Irren ist menschlich

«Fehler» sind  Theo Wehners Steckenpferd. Der Professor für Arbeits- und Organisa­tionspsychologie der ETH Zürich im Gespräch über Fehler im Arbeitsalltag, wie sich eine positive Fehlerkultur gestalten lässt und was wir aus Fehlern lernen können.

Herr Wehner, was ist überhaupt ein Fehler?
Ganz einfach, wenn wir ein Ziel verfehlen. Dabei macht es einen qualitativen Unterschied, ob uns Informationen und Wissen zur Zielerreichung gefehlt oder ob wir über das nötige Können verfügt und dennoch rechts mit links verwechselt haben. Bei fehlender Handlungsvoraussetzung sprechen wir im ersten Fall vom Irrtum, im letzten von einem Fehler. Fehler und Irrtümer sind somit unerwartete Ereignisse und nicht bewusst in Kauf genommene Handlungen, bei denen die Zielerreichung per se gefährdet ist.

Warum hat man in Unternehmen nach wie vor ein grosses Problem, mit Fehlern umzugehen?
Nicht nur in Unternehmen. Der Ausspruch «Irren ist menschlich» war als eine Hervorhebung des Menschen, als eine Auszeichnung gedacht, wird aber mehrheitlich als Schwäche erlebt. Natürlich habe auch ich lieber recht, als dass ich mich irre und meine Ziele verfehle. Ich habe aber auch gelernt, im Falle eines Fehlers oder Scheiterns zu reflektieren und daraus zu lernen. Und genau hier haben Unternehmen ein Problem: Sie tabuisieren Fehler und schauen nach vorne, was im Falle von Zielverfehlungen eine falsche Richtung ist.

Gibt es Länder, die besser mit «Fehlern» umgehen als wir?
Die Frage ist zu pauschal gestellt. Auch hierzulande gibt es Unternehmen, die auf dem Weg zu einer positiven Fehlerkultur sind. Aber es ist schon so: Länder, Branchen und Personen mit hohen Leistungserwartungen und womöglich perfektionistischen Ansprüchen können schwerer mit Fehlern umgehen als jene, die bereits eine offene Kommunikationskultur leben.

Wie geht man konstruktiv mit Fehlern um, und welche Unternehmenskultur braucht es dazu?
Es braucht die Einsicht, dass wir aus Zielverfehlungen lernen können. Eine fehlerfreundliche Kultur wendet sich den unerwarteten Ereignissen zu und nicht von ihnen ab. Sie schafft Räume, in denen nicht Schuldige, sondern Erklärungen gesucht werden. Die Frage: «Wie konnten die nur so blöd sein?» sollte tunlichst vermieden werden. Vielmehr müsste gefragt werden: «Warum hat es in dieser konkreten Situation Sinn gemacht, so zu handeln, wie die Beteiligten es getan haben?» Diese Haltung einzunehmen, gelingt nur dann, wenn eine Fehleranalyse nicht zwischen Tür und Angel stattfindet, sondern dafür ein spezieller Rahmen geschaffen wird; in moderierten Fallkonferenzen beispielsweise. Dort sollte natürlich nicht jede Bagatelle besprochen werden. Mitarbeitende müssen vielmehr erst lernen, die Wahrnehmung auf typische Fehler zu lenken. Wir nennen sie paradigmatische Ereignisse.

Was sind für Sie die schwerwiegendsten Folgen, wenn man in einem Unternehmen nicht über Fehler sprechen kann?
Man zementiert damit meist eine bestehende tabuisierende Fehlerkultur oder lässt sich nicht auf eine entstehende produktive ein. Durch diese Haltung verpasst man es, individuelles und organisationales Lernen zu ermöglichen, Veränderungen einzuleiten und eine neue Perspektive auf die Arbeitsabläufe zu gewinnen. Das geschieht häufig aus einer Fehleinschätzung über die Ursachenzuschreibung. Zu oft gehen wir davon aus, dass wir alleine für den Fehler verantwortlich sind. Dabei übersehen wir, dass es der Kontext gewesen sein könnte, der uns dazu verleitet hat, diesen Fehler oder Irrtum zu begehen. In der Psychologie sprechen wir dann von einem fundamentalen Attributionsfehler: Person statt Situation.

Wie wirkt sich ein Fehler oder Irrtum auf die Psyche von uns Menschen aus?
Sie lösen Affekte und oft negative Emotionen aus. Unter Umständen beschämen sie uns sogar. Wir nehmen plötzlich wahr, dass etwas falsch war, schiefgegangen ist und wir es vermasselt haben. Hätten wir immer genügend Selbstbewusstsein oder gäbe es ein fehlerfreundliches soziales Milieu, wären wir einfach nur überrascht und eventuell neugierig, das Geheimnis zu lüften. Schamgefühle und rote Ohren sind nicht genetisch bedingt, sondern gelernt. Dabei gilt: Man kann auch umlernen.

Wie schaffen wir es, dass Fehler nicht an unserem Selbstwertgefühl kratzen?
Vorläufig kratzen sie daran. Das zu überwinden, schaffen wir nur gemeinsam und nur in einer fehlerfreundlichen Beziehung, Familie, Schule oder Organisation. So werden auch psychische Widerstandskräfte gestärkt. In einer sogenannten «blame culture» hingegen wird die individuelle und organisationale Resilienz geschwächt.

Inwiefern hängen «Fehler machen» und «Innovation» zusammen?
Es gibt einen Zusammenhang, er ist aber seltener, als er zurzeit immer wieder heraufbeschworen wird. In der Landwirtschaft weiss man: Nicht jeder Mist ist Dünger. Das gilt auch für unsere Fehler. Manche sind nur lästig, vielleicht ärgerlich, hoffentlich auch mal amüsant oder kurios. Innovationspotenzial haben wenige und das Potenzial wird auch nur erkannt, wenn es gelingt, eine aufklärerische Haltung einzunehmen.

Was sollen, können und müssen wir durch Fehler lernen?
«Aus Fehlern lernt man», sagt der Volksmund. Leider sagt er nicht, was. Die psychologische Fehlerforschung hat jedoch Antworten gefunden. Wir sind keine reflexgesteuerten Wesen. Unsere Wünsche und Bedürfnisse wecken unmittelbar auch ein zu erreichendes Ziel. Danach kommen unser Wille und die Motivation ins Spiel, dieses Ziel zu erreichen. Es werden Handlungen geplant und durchgeführt. Das erreichte und das antizipierte Ziel kann Differenzen aufweisen, weil wir Fehlannahmen getroffen oder ganz spezifische Begebenheiten nicht beachtet haben. Falls diese Differenz nicht ignoriert, verdrängt, der Schuld anderer zugeschrieben und als bedeutsam genug angesehen wird, um sie zu analysieren, kann daraus gelernt werden: Wer Fehler analysiert, erhöht die Einblickstiefe in Handlungsprozesse und Organisationsabläufe.

Zur Person

Theo Wehner, 1949 im deutschen Fulda geboren, studierte nach abgeschlossener Berufsausbildung an der Universität Münster Psychologie und Soziologie und promovierte sowie habilitierte an der Universität Bremen. Seit 1997 ist er ordentlicher Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich.

Das Interview erschien zuerst im Fachmagazin HR Today.

Kommentieren 0 Kommentare

Christine Bachmann ist die Chefredaktorin von Miss Moneypenny.

Weitere Artikel von Christine Bachmann
Log in to post a comment.

KOMMENTARE

ADD COMMENT