Um was geht’s?
Die Digitalisierung hat nicht nur Gesellschaft und Wirtschaft radikal verändert, sondern auch vor der Industrie nicht haltgemacht. Die vierte industrielle Revolution ist in vollem Gange. Das Ziel ist, dass Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte mithilfe intelligenter und digital vernetzter Systeme miteinander kommunizieren und sich dann auch weitgehend selbst organisieren. Indem vor allem Produktions- und Logistikprozesse innerhalb und zwischen Unternehmen miteinander verzahnt werden, kann weit effizienter produziert werden als bisher.
Die Entwicklung der Industrie 4.0 steht dabei noch ganz am Anfang. Viele gehen davon aus, dass sich die Produktion durch Vernetzung und Digitalisierung auf ähnlich gravierende Weise verändern wird wie durch Mechanisierung, Elektrifizierung oder Automatisierung. «Die Vision ist die smarte Fabrik, in der alles von selbst läuft», sagt Philip Hauri, Geschäftsführer des Schweizer Vereins Industrie 2025. Doch er bezeichnet die Veränderungen nicht als Revolution, sondern als «technische Evolution». So sei es zum Beispiel eine logische Weiterentwicklung, zwei unabhängig voneinander laufende automatisierte Produktionsstrassen zu vernetzen und aufeinander abzustimmen, wenn die Technik dies ermögliche.
Wer hat’s erfunden?
Der Begriff Industrie 4.0 geht zurück auf eine Forschungsinitiative der deutschen Bundesregierung, der ein gleichnamiges Projekt zur Hightech-Strategie und eine Forschungsplattform folgten. Der Begriff hat sich im gesamten deutschsprachigen Raum durchgesetzt, auch wenn die Initiative und die Plattform in der Schweiz unter dem Titel «Industrie 2025» auftreten.
Wie funktioniert’s?
Bei der Industrie 4.0 handelt es sich nicht um einzelne Erfindungen oder Produkte. «Wer einzelne Produkte als Industrie-4.0-tauglich bezeichnet, betreibt reines Marketing», erklärt Hauri. Denn einzelne Produkte hätten nur Schnittstellen, die die Vernetzung und Kommunikation mit anderen Produkten erlaubten.
Mit Industrie 4.0 dagegen ist ein grundlegendes Konzept zur Gestaltung der Organisation gemeint, das auf vier Prinzipien beruht:
- Vernetzung
Maschinen, Geräte, Sensoren und Menschen können sich miteinander vernetzen und über das Internet der Dinge oder das Internet der Menschen kommunizieren.
- Informationstransparenz
Sensordaten erweitern Informationssysteme und erstellen in Fabriken ein virtuelles Abbild der realen Welt.
- Technische Assistenz
Assistenzsysteme liefern aggregierte, visualisierte und verständliche Informationen. So können Menschen fundiertere Entscheidungen treffen und Probleme schneller lösen. Ausserdem werden Menschen bei anstrengenden, unangenehmen oder gefährlichen Arbeiten physisch unterstützt.
- Dezentrale Entscheidungen
Cyberphysische Systeme treffen eigenständige Entscheidungen und erledigen Aufgaben möglichst autonom. Dann ist nur in Ausnahmefällen wie Störungen oder Zielkonflikten ein menschliches Einschreiten notwendig.
Ob und wie es sich für ein Unternehmen lohne, diese Prinzipien anzuwenden, ist allerdings immer eine Frage des Einzelfalls. Anknüpfungspunkte gebe es immer, sei es bei der Optimierung von Prozessen, bei der Marktanbindung über einen besseren Service oder bei der Entwicklung ganz neuer Geschäftsmodelle. «Das kann ganz unterschiedlich aussehen und viele Unternehmen sind schon mittendrin, ohne sich dessen bewusst zu sein», sagt Hauri. Gerade für KMU sei die Industrie 4.0 ein riesiges und fast unüberschaubares Thema. «Die haben da nicht die richtigen Kompetenzen und brauchen Beratung», sagt Hauri. In der Schweiz hilft der Verein Industrie 2025 ihnen deshalb dabei, das vorhandene Potenzial herauszufiltern und die richtigen Akteure zusammenzubringen. «Wir verstehen uns als Drehscheibe für Schweizer Unternehmen», erklärt Hauri.
Praxisbeispiele
Informationstransparenz: Hafen Hamburg
Im grössten Seehafen Deutschlands wurden verschiedene Instanzen so miteinander vernetzt, dass in Echtzeit einsehbar ist, welche Schiffe mit welcher Ladung wann ankommen werden und welche LKW dann zur Verfügung stehen. So kommt es nicht zu Engpässen beim Abtransport und die Produktivität konnte um 50 Prozent gesteigert werden, ohne zusätzliche Massnahmen zu ergreifen.
Vernetzung: die intelligente Glühlampe:
Eine Glühlampe wird mit anderen vernetzt und alle können auf Bewegung und aufeinander reagieren. Das klingt banal, hat aber gleich einige Mehrwerte:
- Die Lampen gehen an und aus, wenn man das Zimmer wechselt. Das spart Strom und damit Kosten.
- Wenn man nicht zu Hause ist, bekommt der Nachbar mit, wenn sich jemand anderes durch die Wohnung bewegt. Damit dient das System auch zur Einbruchswarnung.
Technische Assistenz: Visualisierung von Triebwerken
Rolls-Royce hat ein dreidimensionales virtuelles Visualisierungssystem für die Darstellung von Triebwerken entwickelt, in das der Betrachter quasi eintauchen kann. Bereits existierende CAD-Daten werden in die Software übertragen und die Raumpositionen der Nutzer vor den Grossbildschirmen mittels Spezialkameras erfasst. Die perspektivisch korrekten Darstellungen – inklusive Bewegungen – lassen sich dann auf einen Avatar übermitteln. Damit wird das Verständnis der Triebwerkskonstruktion verbessert, die Entwicklungszeiten werden verkürzt, die Wartung wird erleichtert und ein effektiveres Training wird ermöglicht.
Was bringt’s?
Kurz zusammengefasst, geht es den Unternehmen um Optimierung und Effizienzsteigerung. Und das ist vor allem in Europa notwendig, denn viele Unternehmen haben die Produktion ins Ausland verlagert, um Kosten zu sparen. «Wir möchten wieder hier produzieren», erklärt Hauri. Und dafür müsse es einfach effizienter und damit auch billiger werden. «Die Industrie 4.0 ist eine grosse Chance für einen richtigen Produktivitätssprung», ist er überzeugt. Daneben sei die Industrie 4.0 aber auch ein Innovationsmotor. «Das bringt ganz viele neue Ideen und damit auch Mehrwerte.»
Macht’s auch Probleme?
Smarte Fabriken, vollautomatisierter Service – viele fragen sich, wo da der Mensch bleibt, der nun mal mit Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreitet. Hauri hat eine gute Nachricht für die, die deshalb verängstigt sind. «Grundsätzlich haben die Länder mit der grössten Automatisierung die niedrigste Arbeitslosigkeit», sagt er. Und die Erfahrung zeige, dass auf den Menschen auch nicht verzichtet werden könne. Viele Kunden wünschten heute viel individuellere Lösungen und kleinere Losgrössen als früher, da sei der Einsatz von reiner Automatisierung nicht immer sinnvoll. Als Beispiel nennt er einen Autohersteller, dessen Modelle so vielfältig sind, dass Roboter das nicht bewerkstelligen könnten. «Da wurden dann die Arbeiter mit den richtigen Assistenzsystemen einfach effizienter gemacht», sagt Hauri. Und die Arbeitsplätze bleiben erhalten. Generell sei die Wirtschaftlichkeit der Industrie 4.0 auch noch fraglich. «Da muss erst mal viel investiert werden; was das bringt, wird man sehen.»