Geständnisse einer Vorzimmerdame

Im Notfall tanzen alle nach meiner Pfeife

Der Notfall ist ein Szenario, mit dem sich Manager auskennen. Dafür wurden sie an den Hochschulen und Universitäten ausgebildet.  Wenn es darum geht, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen, den Ruf der Firma oder den eigenen Bonus zu retten, laufen sie zur Höchstform auf. Keine Mühen werden gescheut, keine Zusatzkosten vermieden. Wer sich einen erfolgreichen Turnaround auf die Fahne schreiben darf, kann sich die Jobs zukünftig aussuchen. So weit, so gut. Alles easy!

Immerhin ist es in der heutigen Zeit eine Selbstverständlichkeit, dass eine Grossfirma stets für jede Art von Notfall gewappnet ist. Hochbezahlte Consultants und erfahrene Kadermitarbeiter haben Business-Continuity-Pläne für jede Art von Katastrophe entwickelt, die sich ein am Bürotisch arbeitender Mensch ausdenken kann. Pandemie, Überschwemmung, Erdbeben, Feuersbrunst, Terroranschlag, Finanzkrise, Hacker-Angriff, Invasion der amerikanischen Grauhörnchen, EU-Beitritt, seismische Aktivität im Röstigraben ... Egal, was passiert: Die Firma funktioniert weiter. Jedenfalls auf dem Papier. Es sei denn, die Grauhörnchen hätten sich schon daran zu schaffen gemacht.

Dazu ist zu sagen, dass, wenn es um Leib und Leben geht, die KMU in Sachen Notfallplan deutlich im Vorteil sind. Wenn es in der Werkstatt brennt, rennt der Lehrling ins angrenzende Bürogebäude und schreit «Feuer! Alles raus!» und dann stürmen alle ins Freie. In einer Grossfirma hingegen wird dem Personal die Aufforderung, das Gebäude unverzüglich zu verlassen, per Durchsage via Gegensprechanlage übermittelt. Und jetzt kommt der Glaube ins Spiel. Ein Konzept, das in einer aufgeklärten, multikulturellen Geschäftswelt nichts verloren hat.

Muss ich glauben, dass dies ein Notfall ist, auch wenn ich kein Feuer sehe? Handelt es sich vielleicht um eine Übung? Oder gar um einen Fehlalarm? Was tut ein krisenerprobter Spitzenmanager also in einem solchen Fall? Er spricht mit den Experten und schafft Fakten. «Frau Meier, klären sie ab, ob ich flüchten muss! Sie wissen ja, dass ich in fünf Minuten eine wichtige Sitzung habe, und das käme mir jetzt sehr ungelegen.»

In der Regel hat Frau Meier bereits «freiwillig» den Job gefasst, der gerne im Mitarbeitersegment mit niederem oder gar keinem Rang angesiedelt wird: Bei Alarm soll sie mit Hilfe einer Trillerpfeife dafür sorgen, dass alle das Gebäude verlassen. Bei der letzten Fluchtwegbegehung konnte sie gerade mal ein Drittel aller Mitarbeitenden dazu motivieren, sich zum Sammelplatz zu begeben. Paradoxerweise sollen im Notfall die Ranghöchsten den Anweisungen der Rangniedrigsten Folge leisten. Flache Hierarchie nennt man das. Die funktioniert im Geschäftsalltag nicht und bei einer Feuersbrunst schon gar nicht.

Doch ist der Chef nicht willig, braucht die Assistentin Chuzpe, damit sie ihm den Hintern retten kann: «Herr Huber, die Sitzung fällt aus! Machen Sie die Socken scharf! Sie tanzen jetzt nach meiner Pfeife. Let’s flücht!»

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Tamara Krieger arbeitet seit vielen Jahren als Geschäftsleitungsassistentin in einem grossen multinationalen Dienstleistungsunternehmen.

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