Geständnisse einer Vorzimmerdame

Ich weiss, dass ich nichts weiss

Diskussion zwischen einem Vater, der Geschäftsführer einer multinationalen Bank ist, und seinem sechsjährigen Sohn.
Kind: Was machst du eigentlich den ganzen Tag im Büro?
Vater: Ich mache Meetings, halte Besprechun-gen ab, nehme an Sitzungen teil.
K: Und was macht man da?
V: Man spricht.  
K: Und was machst du, wenn du nicht sprichst?
V: Fürs Nicht-Sprechen werde ich nicht bezahlt. Es ist wichtig, sich zu besprechen. Damit hält man die Firma am Laufen, denn dadurch werden Entscheidungen generiert.
K: Und du kannst entscheiden, wie alles gemacht wird? Wie bei uns zu Hause. Aber da entscheidet immer die Mama, gell!
V: Ja, so ähnlich. Ich kann vieles entscheiden. Aber die wichtigen Sachen muss ich noch mit meinem Chef besprechen und der mit seinem.
K: Wie lange dauert denn das, bis ein Chef das gut findet? Eine Stunde?
V (lacht): Nein,  das kann viele Wochen dauern.
K: Wirklich! Aber wird dir denn nicht langweilig, wenn du so lange warten musst?
V: Nein. Ich habe ja noch andere Sachen zu tun. Ich bin den ganzen Tag in Besprechungen.
K: Papa, wenn mich die Lehrerin etwas fragt, dann weiss ich manchmal die Antwort nicht. Was machst du, wenn dir nichts einfällt?
V: Dann sage ich einfach etwas, das schlau klingt.
K: Kann ich das auch lernen?
V: Nein, du musst immer schön lernen, damit du mal ganz viel weisst.
K: Ich will aber lernen, wie man schlau klingt, auch wenn man nichts weiss. Genau wie du.
V: Bei mir ist das anders. Was ich im Büro sage, ist nicht so wichtig. Aber du sollst mal einen guten Beruf lernen, und dafür braucht es Wissen.
K: Ich möchte gerne auch einen Beruf haben, bei dem man nur sprechen muss.
V: Aber ich spreche nicht nur. Ich sage ja auch was.
K: Sachen, die schlau klingen?
V: Genau. Aber ich weiss auch manchmal wirklich was!
K: Kommt das oft vor?
V: Ab und zu.
K: Aber die anderen denken, dass du immer alles weisst?
V: Niemand weiss alles. Aber in meiner Posi-tion muss man das auch nicht. Wenn ich etwas nicht weiss, dann spreche ich mit Leuten, die es wissen.
K: Aber dann merken die ja, dass du es nicht weisst?
V: Wenn ich es klug anstelle, dann fällt das niemandem auf.
K: Papa, wenn du mir beibringst, wie man klug klingt, obwohl man es nicht ist, dann muss ich gar nicht mehr zur Schule gehen.
V: Nein, du verstehst das falsch, denn auch um nichts zu wissen, muss man erst mal was lernen.
K: Heisst das, dass du mal ganz viel wusstest, aber alles vergessen hast?
V: Ja. Also nein. Natürlich habe ich nicht alles vergessen. Ich brauche nur nicht mehr all das Wissen. Dafür habe ich Spezialisten.
K: Aber wenn du immer die anderen fragen musst, wäre es denn nicht besser, wenn die deinen Job machen würden? Dann hättest du viel mehr Zeit, um mit mir zu spielen!
V: Nein, das geht natürlich nicht.
K: Warum nicht? Die wissen doch alles. Die brauchen dich gar nicht.
V: Weisst du, sie wissen es erst, wenn ich es sage.
K: Hä?
V: Wenn ich es anordne, dann erkundigen sich die Spezialisten bei den Experten.
K: Wenn die nochmals jemanden fragen müssen, dann wissen die auch nichts?!
V: Ja, aber wir wissen schon alle ziemlich viel. Nur nicht immer das Richtige.
K: Und wenn du nicht das Richtige weisst, dann machst du es so, dass es trotzdem keiner merkt, weil du so tust, als wenn du schlau wärst und deswegen viel sprechen müsstest in den Sitzmeetings.
V: Genau. Weisst du, wenn man weiss, dass man nichts weiss, dann ist das Leben viel einfacher und man kann damit ziemlich viel Geld verdienen.

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Tamara Krieger arbeitet seit vielen Jahren als Geschäftsleitungsassistentin in einem grossen multinationalen Dienstleistungsunternehmen.

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