«Gerechte Strukturen sind wichtige Demenzprävention»
Demenz, Parkinson und Co. – im Alter kann es sein, dass das Gehirn nicht mehr mitmacht. Miss Moneypenny befragte Alzheimerforscherin Dr. Barbara Plagg nach ihren Tipps fürs gesunde Gehirnaltern.

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Hierbei handelt es sich um die erweiterte Fassung des Interviews aus dem Miss Moneypenny-Magazin 4/2025.
Wie verändert sich unser Gehirn mit zunehmendem Alter?
Barbara Plagg: Man kann sich das Gehirn ein bisschen wie seine Lieblingsbibliothek vorstellen: Die Regale werden voller, das Sortieren dauert etwas länger, aber die Klassiker stehen griffbereit. Konkret bedeutet das, dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit langsam abnimmt und wir manchmal etwas länger brauchen, um neue Informationen aufzunehmen. Gleichzeitig wächst aber unser Erfahrungsschatz, wir können besser einschätzen, was wichtig ist und was nicht. Altern bedeutet weniger Turbo, dafür mehr Tiefgang.
Welche Anzeichen sind normale Alterserscheinungen – und wann sollte man aufmerksam werden?
Normal ist: Man steht in der Küche und fragt sich «Was wollte ich hier nochmal holen?» Aufhorchen sollte uns lassen, wenn sich der Alltag nicht mehr wie gewohnt bewältigen lässt. Wenn man beispielsweise Routineabläufe nicht mehr schafft oder sich in vertrauter Umgebung nicht mehr orientieren kann. Auch wenn Angehörigen auffällt, dass sich etwas verändert, sollte man das ernst nehmen und medizinisch abklären lassen.

Dr. Barbara Plagg (Foto: Manuela Tessaro)
Was unterscheidet Alzheimer und Demenz eigentlich?
«Demenz» ist der Überbegriff für eine ganze Gruppe von Erkrankungen, bei denen das Gehirn nach und nach an Nervenzellen verliert. Alzheimer ist dabei die am häufigsten diagnostizierte Form. Allerdings geht man inzwischen davon aus, dass es oft tatsächlich Mischdemenzen und keine «reine» Alzheimer-Demenzen sind. Das bedeutet, dass neben den typischen Alzheimer-Eiweissklümpchen, die wir im Fachjargon Amyloid-Beta-Plaques und Tau-Fibrillen nennen, es häufig auch Mini-Schlaganfälle gibt, die das Hirngewebe schädigen. Bei anderen Demenzformen findet man dann wiederum nochmal andere Eiweissablagerungen und andere strukturelle Schäden im Gehirn. All diese Erkrankungen haben unterschiedliche Namen, aber alle haben eines gemeinsam: den langsamen Nervenzellverslust.
Welche Rolle spielt der Lebensstil wie Ernährung, Bewegung und Schlaf im Vergleich zu genetischen Faktoren?
Gene sind kein Schicksal, sondern nur der Rahmen, aber ob und wie Gene «eingeschaltet» oder «ausgeschaltet» werden, können wir mit unserem Lebensstil steuern. Geschätzt werden rund 40 Prozent aller Demenzfälle von schlechten Lebensstilfaktoren ausgelöst. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen die Zahl sogar noch höher. Zu wenig Schlaf, Bewegungsmangel, Fast Food und Dauerstress drehen riskante Gene auf, mediterrane Ernährung, tägliche Bewegung und sieben Stunden Schlaf schützen uns hingegen. Und noch ein paar andere Kniffe helfen auch, die es im Buch zu lesen gibt. Dass der Lebensstil so eine wichtige Rolle für unser Gehirn – und nicht nur fürs Herz und fürs Abnehmen spielt – wird leider noch immer unterschätzt und viele Menschen glauben, es sei einfach nur Schicksal. Das ist es aber in den wenigsten Fällen, denn vererbbare Demenzformen, die man schon in die Wiege gelegt bekommen hat, sind vergleichsweise selten.
Gibt es auch Faktoren, die Gehirnerkrankungen im Alter begünstigen?
Ja, dazu gehören ganz klar unbehandelte Vorerkrankungen wie beispielsweise dauerhaft hoher Blutdruck, schlecht eingestellter Diabetes, starkes Übergewicht, hohe Cholesterinwerte, Hörverlust, wiederholte Kopfverletzungen und unbehandelte Depression. Was den Lebensstil angeht, so sind Rauchen, übermässiger Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, soziale Isolation und wenig geistige Aktivität die Hauptrisikofaktoren.
Bewegung und Sport als Prävention erscheinen in Ihrem Buch als wichtigster Faktor für eine gute Gehirngesundheit. Kann es auch zu viel Sport geben?
Also zunächst würde ich nicht sagen «wichtigstes» Thema, denn für jeden Menschen wird ein anderes Kapitel im Buch das «wichtigste» sein. (lacht) Es gibt deshalb auch nicht den EINEN Tipp, der für alle funktioniert – denn jedes Gedächtnis hat ein anderes Leben auf dem Buckel und befindet sich gerade in einer anderen Lebensphase. Vielleicht ernähren Sie sich vorbildlich, liegen aber jede Nacht stundenlang wach? Vielleicht lesen Sie viel, aber gehen keine hundert Schritte pro Tag? Vielleicht haben Sie ein aktives Sozialleben, aber einen unbehandelten Bluthochdruck? Das Gedächtnis besteht aus Zellen und diese Zellen nehmen durch unterschiedliche Dinge auf Dauer Schaden. Welche Dinge das sind, ist individuell. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Auch bei Sport macht selbstverständlich die Dosis das Gift. Gut und gesund ist nur, was im individuell adäquaten Mass – und das ist natürlich auch unterschiedlich – in gesunder Art und Weise ausgeübt wird. Aber dann ist Bewegung wirklich eines der smartesten und günstigsten Strategien, unsere grauen Zellen fit zu halten.
Die WHO empfiehlt Erwachsenen wöchentlich mindestens 150 Minuten körperliche Aktivität von moderater Intensität. Bei rund 40 Stunden Arbeit pro Woche und Betreuungsarbeit zu Hause ist wahrscheinlich oft nicht mehr viel Motivation übrig, drei Mal die Woche noch einen Abstecher ins Schwimmbad oder ähnliches einzuplanen. Was raten Sie?
Das ist in der Tat ein Riesenproblem: Woher Zeit und Motivation nehmen? Vielleicht hilft es, Bewegung nicht als Marathon für den Feierabend, sondern als kleinem Snack für zwischendurch zu verstehen: 150 Minuten pro Woche klingen viel, 21 Minuten pro Tag klingen schon deutlich weniger und das bekommt man auch hin. Indem man beispielsweise zwei Haltestellen früher aussteigt und den Rest latscht, während des Telefonats eine Runde um den Block geht oder einfach mal die Treppen statt den Aufzug nimmt. Es gibt unzählige Bewegungsangebote in unserem Alltag. Wer mit diesen kleinen Häppchen den Kreislauf täglich kurz auf Touren bringt, braucht sich weniger zu ärgern, weil das Fitnessstudio mal wieder ausfiel.
Sie sprechen in Ihrem Buch über die Bedeutung sozialer Kontakte. Was unterscheidet oberflächliche Kontakte von wirklich «gehirngesunden» sozialen Beziehungen?
Small Talk boostet unsere grauen Zellen nicht. Sich immer die gleichen Floskeln hin und her zu lächeln, das kriegen unsere Nervenzellen im Schlaf hin. Dafür müssen sie nur immer reaktivieren, was sie bereits abgespeichert haben. Was hingegen geistiges Futter ist: Gespräche mit Fragen, Perspektivwechsel und einem engagierten Hin-und-Her: das trainiert das Arbeitsgedächtnis. Ausserdem kitzeln Gefühle wie Begeisterung, Freude, Frust und Empörung unsere Neurone und natürlich liebt es unser Gehirn, neue Dinge zu erleben. Super ist auch, wenn man zusammen lacht. Kinder lachen, kichern und giggeln bis zu 400 Mal am Tag – wir Erwachsene hingegen im Schnitt nur noch 15 bis 20 mal. Dabei ist doch die ganze Welt ein Witz.
Zählt auch das Team im Büro zu den «gehirngesunden» sozialen Beziehungen?
Das kommt auf das Team drauf an. Ist das Klima gut, arbeiten unsere Neurone gut. Ist es schlecht, arbeiten sie schlechter. Wenn wir gemobbt, gestresst oder ignoriert werden, arbeitet unser Gehirn deutlich schlechter, denn unter Cortisol bespielt unser Hippocampus, ein Areal, das besonders für die Gedächtnisbildung wichtig ist, deutlich schlechter. Es wäre also ausgesprochen intelligent von Arbeitgebenden, sich um ein gutes Arbeitsklima zu bemühen.
Laut Studien haben Menschen, die ihr Leben lang allein gelebt haben, ein deutlich erhöhtes Risiko für Demenz – bis zu 42 Prozent. Gleichzeitig erleben verheiratete Frauen überdurchschnittlich viel Stress, beispielsweise durch mentale Last. Wie erklären Sie diesen scheinbaren Widerspruch und was folgt daraus für das gesunde Altern von Frauen?
Einsamkeit erhöht das Risiko für Demenz. Aber ein Ehering am Finger ist leider auch kein garantiertes Gegengift: Eine Ehe ist nur dann «gesund», wenn es eine gute Ehe ist. Dann hilft die Zweisamkeit, weil man sich eher zu körperlicher Aktivität, gesunder Ernährung und stimulierenden Tätigkeiten hinreissen lässt, als wenn man allein mit Chips auf dem Sofa versauert. Gleichzeitig kann der emotionale und psychische Support, den man in einer gesunden Partnerschaft voraussetzen sollte, Stress reduzieren und das psychische Wohlbefinden verbessern. Eine konfliktbeladene und unglückliche Beziehung verstärkt Gesundheitsprobleme hingegen. Besser also keine als eine schlechte Ehe! Und was die mentale Last angeht: Stress ist problematisch für das Gehirn. Mentale Carearbeit ist Stress und die ist vor allem weiblich. Daraus folgt: Wir brauchen dringend sozial- und gesundheitspolitische Entlastungen – von flächendeckender Kinderbetreuung über Pflegezeit-Modelle bis hin zu echter Lohngerechtigkeit und Mental-Load-Checks in Unternehmen. Nur wenn Sorgearbeit fair verteilt wird, können auch Frauen ihr Gehirn langfristig schützen.
Gibt es aus Ihrer Sicht einen Unterschied zwischen «sozialer Einsamkeit» und «gesundem Alleinsein»? Und wie viel Nähe – oder Distanz – braucht unser Gehirn?
Alleinsein ist in kleinen, selbstgewählten Dosen wichtig und heilsam. Unser Gehirn braucht Zeit für sich, um kreativ zu sein, Gedanken zu sortieren, das Reizlevel zu senken. Soziale Einsamkeit hingegen ist so ein bisschen wie Hirnhunger haben, aber es kommt nichts rein. Deshalb sinken irgendwann Denk- und Merkleistungen, Stresshormone steigen. Das liegt auch daran, dass das, was wir nicht benutzen, verkümmert. Unser Gehirn verhält sich genau umgekehrt wie unser Auto in der Garage: Das Auto verschleisst mit jedem gefahrenen Kilometern, das Gehirn dagegen verschleisst, wenn es nicht benutzt wird. Rufen wir bestimmte Fähigkeiten oder Erinnerungen nicht mehr ab, dann baut das Gehirn die entsprechenden Verbindungen zwischen den Nervenzellen ab. Es braucht sie ja nicht mehr. Soziale Einsamkeit beschleunigt diesen Prozess.
Gibt es aus Ihrer Sicht Tabus oder Missverständnisse, die wir in unserer Gesellschaft zum Thema Demenz unbedingt aufbrechen sollten?
Eines der grössten Missverständnie, dem ich mit dem Buch auch ein Stück weit entgegentreten möchte, ist die Auffassung, dass man «da eh nichts machen kann». Aber eben doch! Viele Risikofaktoren für Demenz lassen sich beeinflussen. Ich leiere nochmal runter: Bewegung, Schlaf, Ernährung, Stress, Einsamkeit, Blutdruck, Diabetes… Und so weiter.
Was verstehen Sie persönlich unter einem «guten Altern»?
Gelassen anzunehmen, dass das Wetter wechselt – aber den Garten möglichst wetterfest zu machen.
Buchtipp: Smart bis zum Sarg
Wie viel Vergessen ist normal? Wie verändert Lernen unser Gehirn? Ob und wie lange man fit im Gehirn bleibt, ist das Ergebnis unseres Lebensstils und einiger Umweltfaktoren – beide lassen sich beeinflussen. Dr. Barbara Plagg gibt Tipps zu Ernährung, Bewegung, Schlaf und Liebe sowie medizinische Infos, die die Gesundheitskompetenz stärken.
Smart bis zum Sarg
Barbara Plagg
Edition Raetia
2024, 408 Seiten