Porträt

Eine Frau für keine Schublade

Ihre Lebensstelle hat Beate Christina Hagen bereits gefunden: Als Assistentin bei der Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants fühlt sich die 46-Jährige pudelwohl. Auf der Suche ist sie hingegen im Privaten, und zwar nach neuen Guetzlirezepten – damit sie jedes Jahr ihre 60 Sorten backen kann.

Vom Haaransatz bis zum Zeh ist Beate Hagen eine aussergewöhnliche Erscheinung: Das liegt nicht allein an ihrer stattlichen Grösse von über 1,80 Metern. Da sind die pinkfarbenen Stiefel und die raspelkurzen grauen Haare. Der knallrote Lippenstift, die Nägel im gleichen Farbton sorgfältig lackiert. Das bunt gemusterte lila Kleid und das abgestimmte Halstuch, sorgfältig um den Hals geknüpft. Wenn man sie so sieht, würde sie gut in eine kleine Modeboutique passen oder in eine Kunstgalerie. Stattdessen arbeitet die 46-Jährige als Assistentin bei der grössten deutschen Unternehmensberatung Roland Berger in Zürich. In ihrer Freizeit singt sie im Kirchenchor und bäckt leidenschaftlich gerne Weihnachtsguetzli.

Wer nun an die üblichen drei, vier Sorten denkt, der kennt Hagen und ihre Freude an der Vielfalt nicht. Mittlerweile produziert sie 60 verschiedene Sorten, und zwar jedes Jahr. «Es macht mir einfach Spass», begründet es die gebürtige Deutsche mit einem Lachen – so als ob es das Normalste der Welt wäre. Mit ihrer vorweihnachtlichen Backstube angefangen hat sie vor über 20 Jahren. Damals noch in einer Studentenwohnung und mit 46 verschiedenen Sorten. «Am Schluss waren es 3737 Guetzli», sagt sie. Sie weiss es so genau, weil es in ihrem Ordner steht, wo sie alle Rezepte aufbewahrt.

20 Kilo Mehl und 140 Eier

Heute zählt sie die einzelnen Guetzli zwar nicht mehr, doch schon allein die Menge der Zutaten spricht Bände: 20 Kilo Mehl, 15 Kilo Zucker, 140 Eier. Unmengen gehackte Nüsse, Marzipan, geschmolzene Schokolade. Alle -Zutaten führt Hagen fein säuberlich in einer Excel-Tabelle auf. Ähnlich strukturiert verlaufen die «Produktionstage». Morgens steht sie wie immer um 5.03 Uhr auf. Nicht etwa um fünf oder 5.15 Uhr – «das wäre ja langweilig, dann stehen ja viele auf», so Hagen. Sie hat deshalb ihre ganz persönliche Weckzeit eingerichtet. Dann geht es ans Mixen, Rühren, Ausstechen und Backen. Bis abends um elf Uhr. Vier Tage lang. In dieser Zeit nascht Hagen kaum was. Überhaupt: Sie habe zwar gerne Guetzli – am liebsten Zimtsterne – aber nur in kleinen Rationen. Den grossen Rest überlässt sie Familie, Freunden und Arbeitskollegen. In neun Umzugskisten stapeln sich gut 130 Keksdosen, welche sie, grosszügig gefüllt, verschenkt und verschickt. Die grösste Ladung geht am «Tag der offenen Guetzlidose» weg. «Dieser Event hat sich in den letzten Jahren zu Beginn der Adventszeit eingebürgert», sagt Hagen. 

Ausser Dienst

Dieses Ritual ist mir heilig: Heiligabend im Familienkreis mit der Weihnachtsgeschichte in der -Lutherübersetzung, ausgiebigem Gesang und nächtlichem Gottesdienstbesuch.
Da muss ich lachen: Gute Witze und Situationskomik
Darüber ärgere ich mich: Dummheit und Ignoranz
Das möchte ich gerne lernen: Rudern
Das hat mich geprägt: Die Reise nach China 1989 und meine Grundschullehrerin Frau Siebert
Daran erinnere ich mich gerne zurück: Die jährlichen Sommerurlaube auf Sylt
Das bringt mich zum Staunen: Die Liebe. Nach wie vor und immer wieder
Das macht mich unglücklich: Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit
Ein Wort, das meine Arbeit beschreibt: Tempo, Vielseitigkeit, Akkuratesse
Grösstes Laster: Viele Etro-Kleider!
Das wollte ich als Kind werden: Bundeskanzlerin
Eine Tugend, die überschätzt wird: Sparsamkeit

Ab 14 Uhr sind dann jeweils die Türen bei Hagen und ihrem Lebenspartner geöffnet. Der Tisch ist übersät mit Keksdosen. Zu trinken gibt es vor allem Glühwein, aber auch Tee, Saft und Prosecco. Rund 40 Gäste kosten die neusten Kreatio-nen, plaudern und läuten so die Weihnachtszeit ein. «Es ist eine schöne Art, unterschiedliche Menschen und Generationen zu vereinen», sagt Hagen. Und sie kommen alle: die Mitsänger aus dem Chor, die meist älteren Damen und Herren von der Kirche, die sportlichen Ruderkollegen ihres Partners sowie seine Familie, ihre multikulturellen Arbeitskollegen und Nachbarn. Und ihren Chef Martin Wittig lädt sie selbstverständlich auch immer ein.

Blindes Vertrauen

Diese Offenheit sagt viel über ihr Arbeitsverhältnis aus, wo sich Privates und Geschäftliches vermischen. Wo man sich duzt und keinerlei Geheimnisse voreinander hat. «So einen Chef hatte ich noch nie», sagt Hagen. «Wir verstehen uns blind.» Das fing schon beim Vorstellungsgespräch vor über drei Jahren an. Nach dem üblichen Prozedere kam Wittig zur Tür herein und sagte: «Frau Hagen, wenn Sie wollen, ich will!» – und das, ohne sich die zwei andern Bewerberinnen überhaupt angeschaut zu haben. Frau Hagen wollte, und so kam es, dass sie von Sonova zu Roland Berger wechselte. Statt um Hörgeräte ging es um Beratung. Statt um ein handfestes Produkt um eine Dienstleistung. «Die Vielfältigkeit einer Beratungsfirma hat mich sofort angesprochen», sagt Hagen. Dazu kam: Wittig war damals Global CEO von Roland Berger. Dementsprechend gefüllt war seine Agenda. Und dementsprechend zackig war das Arbeitstempo. «Das kommt mir sehr entgegen», sagt Hagen, die ihre E-Mails stets mit dem Kürzel BCH beschliesst, das wie ein Markenzeichen wirkt. 

Die Arbeit besteht vor allem aus dem üblichen Kleinfutter: Reisen organisieren, die Mailliste abarbeiten, Briefe entwerfen und die Pendenzen im Blick behalten. Und in den kleinsten Zeitfenstern immer wieder mit dem Chef Unterlagen besprechen. Sprich: Innerhalb von zehn Minuten eine prallgefüllte Mappe mit Dokumenten durchgehen. Zeit zum Notieren? Denkste. «Da muss man den Kopf schon bei der Sache haben», sagt Hagen. Zum Glück könne sie sich Sachen und auch Namen gut merken. Was vielleicht auch daran liegt, dass Hagen Liedtexte und Gedichte, welche ihr gefallen, auswendig lernt, um ihre grauen Zellen zu trainieren. Ihr Motto: «Was einem lieb und wert ist, kann man auch auswendig lernen.» Dass ihr die Sprache im Allgemeinen am Herzen liegt, bemerkt man rasch: Trotz des rasanten Sprechtempos bringt sie treffende Sätze, hat Spass an einem Wortspiel, flicht Zitate ein und widerspricht, wenn sie einen Begriff nicht treffend findet.  

Zur Person 

Beate Christina Hagen ist am 23. März 1967 in Lüneburg geboren und in Moers am linken Niederrhein aufgewachsen. Sie hat eine zwei Jahre jüngere Schwester. Nach dem Abitur hat sie Wirtschaftswissenschaften studiert. 1989 war Hagen acht Monate zum Studium und auf Reisen in China. Ihr Sohn Clemens wurde 1993 geboren; 1998 ist sie wieder in den Beruf eingestiegen. 

Moral nicht ganz beiseitelassen

Wenig verwunderlich, dass sie in den Gottesdiensten häufig die Bibellesung übernimmt – sehr zum Gefallen der Gemeinde. In der Kirche fühlt sich Hagen sowieso gut aufgehoben. «Wir sind eine gute Gruppe», betont sie. Als sie 2008 aus privaten Gründen in die Schweiz zog, war für sie rasch klar: «Ich gehe in die Kirche und suche mir einen Chor», schliesslich sei jeder selbst für seine Integration in einem Land verantwortlich. Diese verlief bei Hagen übrigens problemlos. Von Ressentiments gegenüber Deutschen spürte sie nichts: «Ich wurde überall sehr herzlich aufgenommen», sagt sie. Als ab 2010 auch Ausländer für Kirchenämter kandidieren durften, liess sich Hagen in der Gemeinde Männedorf aufstellen und wurde prompt gewählt. «Der Glaube und die Kirche waren mir schon immer sehr wichtig», so Hagen. Es sei schön, sich auf diese Art zu bedanken. 

Im Alltag manchmal stolpert sie aber auch über ihre moralischen Massstäbe. Beispielsweise dann, wenn sie ihren Chef am Telefon verleugnen muss. «Diese Situation kennt ja jede Assistentin: Der Chef hat keine Zeit und man muss das Gegenüber mit einer Geschichte abspeisen», erzählt Hagen. An Tagen, an welchen sie besonders häufig in die Lügenkiste greifen muss, sagt sie am Abend jeweils zu ihrem Chef: «Kein Wunder, dass ich ständig in die Kirche gehe, sonst komm ich ja nie in den Himmel!»

24 Stunden verfügbar

Ihr Chef dankt es ihr mit uneingeschränktem Vertrauen. Seine Mails werden automatisch in ihre Mailbox geleitet, sie hat Zugriff auf ein privates Konto, um Rechnungen zu zahlen, sie kennt die Haushälterin von Wittig genauso wie seine Familie. Als sie im Winter mal ein Tief hatte, lud Wittig sie in sein Ferienhaus ins Engadin ein. Handkehrum passt Hagen ihre Arbeitszeiten seinem jeweiligen Aufenthaltsort an. «Er verlässt sich darauf, dass ich alles erledige – egal wann und wo», so Hagen. Das Verhältnis hat sich in den letzten Monaten noch intensiviert. Als Wittig im Mai aus gesundheitlichen Gründen als CEO zurücktreten musste, wusste es Hagen schon Tage im Voraus. Und als er sich in den USA einer längeren Behandlung unterzog, zahlte er ihr mal rasch den Flug über den grossen Teich, um sie bei sich zu haben. Für den 1,90 Meter grossen Wittig, der nun als Verwaltungsratspräsident von Roland Berger Schweiz amtet, war auch nach seinem Rücktritt klar: Hagen bleibt, wenn nichts Aussergewöhnliches dazwischen kommt. Ähnlich ging es Hagen. «Ich für meinen Teil habe meine Lebensstelle gefunden», sagt sie. Und das aus einem triftigen Grund: «Ich schaue zu meinem Chef auf, achte ihn.» Und das in allen Belangen – nicht nur von der Körpergrösse her. 

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Sarah Forrer ist freie Journalistin.

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