Was ist überhaupt …

Was ist überhaupt disruptive Innovation?

Was hat die Pferdekutsche mit der SMS und der Schreibmaschine gemeinsam? Sie wurden ersetzt durch ganz neue Produkte, die noch viel mehr Möglichkeiten bieten als ihre Vorgänger. Die sogenannten disruptiven Innovationen lassen nicht nur grosse Unternehmen schwanken und ganze Branchen untergehen, sie verändern auch die Welt für jeden Einzelnen von uns.

Um was geht’s?

Das Wort Disruption kommt aus dem Englischen, «to disrupt» bedeutet «unterbrechen» oder «zerstören». Dementsprechend werden Innovationen, die alte Geschäftsmodelle oder Technologien vollständig ersetzen, als disruptive Innovationen bezeichnet. «Das sind echte Game-Changer», erklärt Prof. Dr. Jens Meissner, der das interdisziplinäre Zukunftslabor CreaLab an der Hochschule Luzern leitet. Von anderen Innovationsformen unterscheiden sich disruptive Innovationen grundlegend. «Sie stellen nicht nur eine neue oder bessere Lösung für ein bestehendes Nutzerbedürfnis dar, sondern lösen zusätzlich ein ganz neues Nutzerbedürfnis aus», erklärt der Experte.

Kontinuierliche Innovation:

Ein Produkt wird verändert und/oder verbessert – das Nutzerbedürfnis bleibt gleich.

Beispiel: Neue Produktgeneration eines beliebigen Produkts – Funktionen bleiben gleich, werden aber verbessert.

Radikale Innovation:

Eine neue Technologie ersetzt eine andere – befriedigt aber das gleiche Nutzerbedürfnis.

Beispiel: Halogenlampen lösten Glühbirnen ab, machen aber auch nur Licht.

Disruptive Innovation:

Eine neue Technologie löst ein ganz neues Nutzerbedürfnis aus und befriedigt es – und ersetzt dabei bestehende Technologien.

Beispiel: Erfindung des Smartphones – vereint viele Funktionen in einem Gerät, löste Tastentelefone, Musikplayer, Fotokamera und vieles mehr ab und veränderte unseren Umgang mit Medien und Kommunikation grundlegend.   

«Heute sind es oft digitale Neuentwicklungen, die das Zeug zur disruptiven Innovation haben», erklärt Jens Meissner. Zum Beispiel dynamische Preissysteme, die Idee der Plattform-Ökonomie oder auch Fintechs, die nicht nur ihre Branchen gehörig aufwirbeln, sondern an allen Ecken und Enden für Veränderungen sorgen.

Wer hat’s erfunden?

«Das Phänomen an sich ist nicht neu», erklärt Meissner. Schon Joseph Schumpeter habe Mitte des 20. Jahrhunderts den Prozess der kreativen Zerstörung in wirtschaftlichen Zusammenhängen beschrieben und als notwendig für die Weiterentwicklung bezeichnet. 1997 führte dann Clayton M. Christensen von der Harvard Business School den Begriff der disruptiven Technologie oder Innovation ein, in deren Folge grundlegende Marktveränderungen auftreten.

Wie funktioniert es?

Disruptive Innovationen funktionieren an sich sehr einfach: Eine neue, gute Idee und eine gelungene Umsetzung treffen auf interessierte Nutzer und Konsumenten und der Rest ist ein Selbstläufer. Doch ganz so simpel ist es nicht. Manche Technologie schlummert jahrelang, bis ein Unternehmen die richtige Umsetzungsidee findet. Ein Beispiel hierfür sind Videokonferenzen. «Die Schlüsseltechnologie ist schon mehr als 20 Jahre alt, aber es brauchte Zoom und sein Geschäftsmodell, damit diese Form der Kommunikation ihren Big Bang hatte», sagt Meissner. Und dann kommt oft noch der Zufall ins Spiel. «Corona hat diese Technologie geradezu befeuert», sagt der Experte.

Auffällig ist aber, dass es meist nicht die etablierten und grossen Unternehmen sind, von denen disruptive Innovationen ausgehen. «Die haben meist einen sehr engen Fokus», erklärt Meissner. Kein Wunder, denn sie haben ein gutes Produkt und ein funktionierendes Geschäftsmodell. «Die fragen sich oft nur, wie sie das verbessern oder noch mehr verkaufen können», beschreibt Jens Meissner das Problem. Für disruptive Innovationen brauche es aber ein anderes Innovationsmanagement. «Da muss man breiter suchen, feine Signale erkennen und assoziativ denken.» Entscheidend sei, auch Entwicklungen im Umfeld im Blick zu haben, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem eigenen Produkt zu tun haben. Erst dann könne man erkennen, ob man das eigene Produkt auf andere Bereiche ausweiten könne oder ob ein Nebenprodukt vielleicht einen ganz anderen Nutzen habe als ursprünglich gedacht. Unternehmen scheiterten seiner Ansicht nach oft daran, weil sie auf Effizienz und Gewinn getrimmt seien und wenig Spielraum für Experimente liessen. «Stillstand ist eine Wohlstandskrankheit», bringt Jens Meissner es auf den Punkt.

Macht’s auch Probleme?

Direkt betroffen von den negativen Folgen von disruptiven Innovationen sind die etablierten Märkte, Branchen und Unternehmen, deren Produkte abgelöst werden. Ein Beispiel aus neuer Zeit ist der SMS-Markt. Bis vor einigen Jahren verdienten die Telefonanbieter noch rund 100 Millionen Franken pro Jahr mit dem damals beliebten Short Message Service. Dann kam WhatsApp – und niemand verschickte mehr SMS. «Der gesamte Gewinn der Telefonanbieter in diesem Bereich brach weg, innerhalb von einem Jahr», sagt Jens Meissner.

Neben den wirtschaftlichen Folgen für einzelne Unternehmen oder Märkte sind aber auch die gesellschaftlichen Folgen von disruptiven Innovationen nicht nur positiv. Aktuell lässt sich das gut beobachten anhand der rasanten Entwicklung im digitalen Bereich. «Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die vieles nicht mehr verstehen und nicht mehr mitkommen», weiss Meissner. Die Folge ist eine digitale Spaltung der Gesellschaft, weil Menschen abgehängt werden. Eine weitere negative Folge ergibt sich aus der Geschwindigkeit der Entwicklung, gerade im digitalen Bereich. Der Weg von der Idee über das Script bis zur Umsetzung sei schnell gemacht und auch die Marktdurchdringung gehe viel schneller vonstatten als früher, sagt der Experte. Staatliche Regulierung könne da oft nicht mithalten. «Das wird ausgenutzt von den Unternehmen», sagt Jens Meissner. Denn der Gewinn der Unternehmen fusse nicht selten darauf, Arbeitnehmerrechte zu ignorieren und zu umgehen. Mit niedrigen Löhnen und schlechten, oft unsicheren Arbeitsbedingungen habe der Arbeitsplatz keine integrative Wirkung mehr. «Ein Taxifahrer hat durch seinen Beruf nicht nur Geld, sondern noch viel mehr: Struktur, ein soziales Umfeld und einen Lebensrhythmus.» Ein Uber-Fahrer habe all das nicht mehr. Diese Entwicklungen führen nach Meinung des Experten zu gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die gravierend sein können.

Was bringt es?

Wenn man sich nur auf den zerstörerischen Charakter der disruptiven Innovationen konzentriert, betrachtet man aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen technischer Fortschritt und damit verbundene Neuordnungen, die keineswegs nur negativ zu bewerten sind. «Selbst wenn grosse Unternehmen untergehen, verschwinden ja nicht die Ressourcen, die sie genutzt haben», erklärt Meissner. Das Kapital, die Arbeitskraft und auch die Maschinen und Rohstoffe seien ja noch vorhanden. «Sie werden nur anders genutzt.» Meist gingen disruptive Innovationen zudem mit einer besseren Nutzung von Ressourcen einher oder lösten bestehende Probleme. Als Beispiel nennt er Car-Sharing und Elektromobilität: Geteilte Autos nehmen nicht mehr so viel Platz weg, E-Autos erzeugen und speichern Energie und wer kein eigenes Auto hat, fährt insgesamt weniger und schont so die Umwelt. «Das löst so viele Probleme auf einmal», freut er sich. Auch für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft als Ganzes bewertet der Experte den Fortschritt meist positiv. «Vieles wird einfacher und man kommt als Gesellschaft weiter.» Voraussetzung sei allerdings, dass man nicht zu strikt an alten Lösungen festhalte. Als Individuum und als Gesellschaft. «Wer neugierig bleibt, sich auf Neues einlässt und dazulernt, der gehört zu den Gewinnern», ist sich der Experte sicher.

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