premium Interview mit Peter Haerle

«Das Engagement nimmt nicht ab, aber es verändert sich»

Das Freiwilligenengagement ist allen Unkenrufen zum Trotz stabil, bestätigt Peter ­Haerle, Geschäftsleiter Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG). Ein Gespräch über Motive, Trends und ein politisches Manifest für die Freiwilligenarbeit.

Vereine bekunden Mühe, Mitglieder zu finden, die Politik sucht händeringend nach Milizkräften. Wie steht es um das freiwillige Engagement der Schweizer ­Bevölkerung?

Peter Haerle: Das sind die klassischen Schlagzeilen. Die Situation ist komplexer und differenzierter. Das zeigt der Freiwilligenmonitor, mit dem wir die Situation um die Freiwilligenarbeit wissenschaftlich untersuchen. Die Anzahl Menschen, die sich engagieren, bleibt erstaunlich stabil – gemäss letztem Monitor von 2020 sind es 62 Prozent der Bevölkerung. Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung sind Mitglied in einem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation. Was jedoch auffällt: Die Art und Weise des Engagements verändert sich stark aufgrund anderer Bedürfnisse. Die Menschen wollen vermehrt in zeitlich befristeten Projekten mitwirken können. Deshalb braucht es neue Rahmenbedingungen.

Was müsste getan werden?

Wir haben zusammen mit anderen Organisationen ein Manifest mit konkreten Forderungen an das Parlament gerichtet. So braucht es künftig eine Ansprechstelle auf nationaler Ebene, öffentliche Anerkennung, ein Abbau von administrativen und rechtlichen Hindernissen sowie einen nationalen Freiwilligenurlaub.

Peter Haerle

Peter Haerle leitet seit Mitte Juni 2022 die Geschäftsstelle der SGG. Zuvor war er über zehn Jahre Direktor der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Inwiefern sollten auch Unternehmen ihre Mitarbeitenden bei der Ausübung von Freiwilligenarbeit unterstützen?

Als Grund für die Beendigung von Freiwilligeneinsätzen geben 42 Prozent der Befragten berufliche Gründe an. Die Vereinbarkeit von Beruf und freiwilligem Engagement ist somit ein zentraler Punkt, bei dem angesetzt werden muss. Hier sind durchaus die Unternehmen gefordert. In unserem Projekt «engagement-lokal» zeigen wir, wie die Wirtschaft aktiv in die lokale Förderung der Freiwilligenarbeit einbezogen werden kann.

Was sind die Motive für ein Freiwilligen­engagement?

Die am häufigsten genannten sind «anderen helfen», «Tätigkeit macht Spass» und «etwas zurückgeben». Häufig wird auch das «Zusammenkommen» genannt.

Welche Fähigkeiten braucht es für die Freiwilligenarbeit?

Freiwilligenarbeit ist so divers. Es braucht je nach Engagement andere Voraussetzungen. Ein Engagement kann bedeuten, in der Nachbarschaftshilfe für einen Nachbarn einzukaufen oder eine ältere Person zur Ärztin zu begleiten. Es kann aber auch komplexer sein: Wenn man in einem Vorstand ein Amt übernimmt, im Theaterverein die Kostüme näht oder die Kulissen anfertigt, sind spezifische Fähigkeiten nötig.

Welche Art der Freiwilligenarbeit ist bei Herr und Frau Schweizer besonders beliebt?

Am häufigsten engagieren sich Menschen in Sport- und Kulturvereinen. Danach folgen kirchliche und soziale Organisationen sowie Freizeitvereine. In den letzten Jahren lässt sich ein abnehmendes Engagement bei den Sportvereinen und dafür ein zunehmendes Engagement bei kulturellen Vereinen, bei sozialen und gemeinnützigen Organisationen sowie bei Freizeitvereinen beobachten.

Für die Koordination von Freiwilligenarbeit ist auch eine Portion Experimentiergeist gefragt.

Wie gewinnt man Menschen für Freiwilligeneinsätze?

Am häufigsten läuft es über persönliche Kontakte und konkrete Anfragen: 46 Prozent der aktiven Freiwilligen wurden von Personen aus den jeweiligen Vereinen und Organisationen überzeugt und bewegt. Für 31 Prozent kam der Anstoss von Freundinnen und Freunden sowie Bekannten. Fragt man die Leute, was passieren müsste, damit sie diesen Schritt wagen würden, erhält man folgende Antworten: «genügend Zeit», gefolgt von «es müsste ein gutes Thema beziehungsweise Anliegen sein». Zudem dürfte das Engagement nicht an allzu fixe Zeiten gebunden sein und es müssten die richtigen Leute mitmachen. Wichtig wäre für die meisten auch, dass sie konkret angefragt und über die Einsatzmöglichkeiten informiert werden. Die Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit sowie die fachliche Unterstützung werden ausserdem von einem Zehntel als Voraussetzung für ein Engagement genannt.

Gibt es Trends im Bereich der Freiwilligenarbeit?

Der demografische Wandel, Individualismus und Mobilität verändern die Gesellschaft massiv und damit auch die Freiwilligenarbeit. Die Menschen wollen sich nicht über lange Zeit binden, sondern flexibel sein. Das fordert viele Organisationen heraus. Deshalb braucht es auch in der Freiwilligenkoordination neue Ansätze und Lösungen.

Was wären Beispiele für solche Ansätze und Lösungen?

Die Koordination wird aufwendiger und komplexer: Dafür braucht es in erster Linie mehr Zeit. Digitale Tools können da eine wichtige Entlastung bieten. Auch muss man sich von eingespielten Abläufen und Gewohnheiten lösen. Da ist auch eine Portion Experimentiergeist gefragt.

Es gibt also eine Zukunft für die Freiwilligenarbeit?

Ja, auf jeden Fall. Die Menschen in der Schweiz sind bereit, sich zu engagieren, und entgegen der weit verbreiteten These nimmt das Engagement auch nicht ab. Aber es verändert sich. Alle sind gefordert, um den neuen Herausforderungen begegnen zu können und neue Rahmenbedingungen zu ermöglichen: Politik, Zivilgesellschaft und auch die Wirtschaft.

Freiwilligenmonitor

Der Freiwilligenmonitor erhebt den Stand des freiwilligen Engagements in der Schweiz durch eine breit angelegte Befragung und schafft so eine fundierte Quelle für die Freiwilligenforschung in der Schweiz. Er wurde 2002 von der SGG initiiert und wird von den Projektpartnern Migros Kulturprozent und Beisheim Stiftung sowie von 30 weiteren Partnerorganisationen mitgetragen. Das Bundesamt für Statistik unterstützt die Studie und das Forschungsinstitut Lamprecht & Stamm leitet in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut LINK die Erhebung wissenschaftlich. sgg-ssup.ch/freiwilligenarbeit/freiwilligenmonitor

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Christine Bachmann ist die Chefredaktorin von Miss Moneypenny.

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