«Arbeit ist kein Lebensverhinderungsprogramm»
Der Buchautor Lothar Seiwert stellt die aktuellen Diskussionen auf den Kopf: Er erklärt im Interview, warum eine Trennung von Arbeit und Freizeit nicht glücklich und erfolgreich macht und warum Work-Life-Balance in seinen Augen Nonsens ist.
Herr Seiwert, in Ihrem neuen Buch nehmen Sie Abschied von der viel beschworenen Work-Life-Balance und den Grundsätzen des Zeitmanagements. Das bedeutet alles zurück auf Anfang?
Lothar Seiwert: Work-Life-Balance ist ein veraltetes Konzept. Ich gehe einen Schritt weiter. Das Problem ist unser Begriff von Arbeit. Wir haben das Wort mit negativen Gefühlen aufgeladen: Arbeit ist das, was keinen Spass macht, was aber gemacht werden muss. Jahrzehntelang haben sich zig Ratgeber mit der Work-Life-Balance beschäftigt. Alleine das Wort «-Balance» zu den Begriffen «Leben» und «Arbeit» zu setzen, markiert schon deren angenommenen Gegensatz. Aber zu behaupten, dass man nicht lebt, während man arbeitet, und auf keinen Fall arbeitet, wenn man lebt, das ist ein veraltetes, angelerntes, unpraktisches Konzept, das zu nichts anderem führt als zur Ohnmacht werktags zwischen 9 und 17 Uhr.
Durch das Gefühl, fremdbestimmt zu sein?
Das Gefühl der Machtlosigkeit ist Stress pur. Das Ziel, ein gutes Leben zu führen, erreicht niemand dadurch, dass er ein möglichst guter Jongleur wird, der die beiden Bälle Leben und Arbeit elegant abwechselnd in die Luft wirft und darauf achtet, dass ihm keiner von beiden auf die Füsse fällt. Vielmehr führe ich dann ein gutes Leben, wenn ich es geschafft habe, den Unterschied aufzulösen: Arbeit ist Leben, und Leben ist Arbeit. Dann komme ich wieder dahin zurück, wo ich vor der Schule schon mal war: bevor man mir die Differenz von Leben und Arbeit eingebläut hat.
Denkanstösse
- Die meisten Menschen glauben, Arbeit sei eine lästige Pflicht oder eine unvermeidbare Notwendigkeit.
- Arbeit ist nicht an Geldverdienst gekoppelt.
- Der Begriff «Arbeit» ist negativ aufgeladen.
- In der Schule üben Schüler täglich, Leben und Arbeit voneinander zu trennen.
- Work-Life-Balance ist ein sinnloser Begriff.
- Es gibt keine «niederen Arbeiten», nur ein niedriges Selbstwertgefühl.
- Es geht nicht darum, zu machen, was man will, sondern zu wollen, was man macht.
- Die innere Einstellung entscheidet über das Freiheitsempfinden im Job. Und das Freiheitsempfinden im Job entscheidet über den Erfolg.
- Wer sich finanzielle Freiheit erarbeitet hat, macht meistens weiterhin genau dasselbe wie zuvor, obwohl er es nicht mehr müsste.
- Freiheit folgt nicht dem Geld, sondern Geld folgt der Freiheit.
Warum plädieren Sie für mehr Selbstbestimmung?
Fremdbestimmung macht Stress. Und Selbstbestimmung ist der entscheidende Meilenstein auf dem Weg zum Erfolg und das Mittel gegen Stress schlechthin. Das soll kein Plädoyer dafür sein, sofort seinen Job hinzuschmeissen, auszuwandern oder einfach nur in den Tag hinein zu leben. Nicht jeder kann eine Chefposition besetzen, und auch nicht jeder möchte auf diesen Sessel. Für Angestellte sind die Handlungsspielräume begrenzter als für Selbständige. Aber besonders bei den Ersteren findet man Menschen, die unglaublich motiviert sind und ihre Arbeit mit voller Begeisterung ausführen, und manche, die sich offensichtlich quälen.
Sollten Führungskräfte da besser hinschauen?
Wenn die Arbeit die Mitarbeiter belastet und die Möglichkeiten des Zeitmanagements nicht mehr ausreichen, hilft ein Blick in eine andere Richtung: Nach welchen Prinzipien und Prioritäten wird die Arbeit erledigt? In welchen Kompetenzbereichen kann der Mitarbeiter eigenverantwortlich agieren? Geht er verantwortungsvoll mit seinen Aufgaben um?
Was können Führungskräfte oder Personaler daraus schliessen?
Für mich gibt es keine «niederen Arbeiten» – weder in der Produktion noch in der Verwaltung. Zu den wichtigsten Aufgaben einer Führungskraft und eines Personalers gehört es daher, motivierende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit jeder Mitarbeiter die Leistung gerne erbringen kann. Näher hinzuschauen hilft zu erkennen, wie der Mitarbeiter zu seiner Arbeit steht. Was unter Umständen auch Stress und Misserfolg erklären kann.
Ist es nicht sinnvoll, dass die Führungskräfte zuerst bei sich selbst schauen?
Ganz richtig. Denn wenn Menschen, die viel Verantwortung tragen, gestresst sind, dann ernten sie leicht Verständnis dafür. Wer solche Lasten schultern muss, der darf auch gestresst sein, so die landläufige Meinung. Aber gerade diese Verantwortungsträger sollten dringend dafür sorgen, ihren Stress zu minimieren. Denn je mehr Verantwortung sie tragen, desto grösser sind die negativen Folgen, wenn sie zusammenklappen. Ihre Verantwortung erstreckt sich auch auf ihren Stresspegel. Erfolg auf Kosten der Gesundheit ist keine Heldentat.
Wie sehr beeinflusst die innere Einstellung unseren Stresspegel und unseren Erfolg?
Oft wird übersehen, dass es überhaupt nicht auf die Art der Arbeit und die Grösse der Verantwortung ankommt, sondern allein auf die innere Einstellung und den Grad an Übereinstimmung zwischen dem Job, den man gerade hat, und dem Job, den man gerne hätte. Wer einmal begriffen hat, dass seine Arbeit kein «Lebensverhinderungsprogramm» ist, sondern Teil seines Lebens, der schafft es dann auch, seine Arbeit gerne zu machen.
Wichtiger als die viel beschworene Work-Life-Balance ist also, dass man seine Arbeit gern macht?
Es geht nicht darum, zu machen, was man will, sondern darum, zu wollen, was man macht.
Das ist einfach gesagt …
Wenn Arbeit und Leben für einen Menschen ein und dasselbe sind, dann entsteht ein merkwürdiger Effekt: eine Aufwärtsspirale des Selbstwertgefühls. Denn wenn ich mit meinem Leben, mit dem, was ich tue, Werte schaffe, die anderen Menschen sichtbar etwas wert sind, dann bekomme ich bei jeder Transaktion, bei jedem Geschäftsvorgang zurückgemeldet, dass ich etwas wert bin. Ich nehme sozusagen jeden Franken Umsatz persönlich. Geld ist dann ein guter Indikator für den Marktwert meiner Leistungen und Ergebnisse, aber es ist nicht der einzige.
Viele Unternehmen wollen ihre Mitarbeiter mit höherem Lohn ködern und für den Job begeistern. Was wird hier übersehen?
Wer seinen Job nicht gerne macht, wird auch nicht mit mehr Lohn zu begeistern sein. Aber umgekehrt wird jemand seinen Aufgaben trotz wachsender finanzieller Freiheit treu bleiben, je mehr sein Herzblut daran hängt. Was tun denn Warren Buffett oder Richard Branson oder Oprah Winfrey? All diese Leute sind finanziell frei. Keiner von ihnen muss arbeiten. Sie alle sind Milliardäre, aber sie tun trotzdem nicht nichts. Mehr noch: Sie alle tun genau das, was sie vorher auch getan haben, also das, was sie so reich gemacht hat. Warum? Weil der Kern dessen, was sie getan haben, keine lästige Arbeit war, sondern weil Leben, Arbeit und Freizeit für sie ein und dasselbe war – und immer noch ist.
Prof. Dr. Lothar Seiwert
ist bekannt als Redner zu Fragen der Zeitautonomie. Von 2009 bis 2011 übernahm er das Amt des Präsidenten der German Speakers Association (GSA). Im Juli 2010 wurde er in den USA mit dem höchsten und härtesten Qualitätssiegel für Vortragsredner, dem CSP (Certified Speaking -Professional), ausgezeichnet. Sein neustes Buch «Ausgetickt: Lieber selbstbestimmt als fremdgesteuert» ist im Ariston Verlag erschienen. www.lothar-seiwert.de