Beruf und Familie managen

Wenn die Eltern Hilfe brauchen

Beim Thema Vereinbarkeit von Job und Privatleben geht es meist um Kinder. Das ist zu kurz gedacht. Gerade Menschen, die sich um alte oder kranke Angehörige kümmern, brauchen viel Unterstützung.

Die Kinder werden selbständiger, der Job rückt wieder in den Mittelpunkt, die nächsten Karriereschritte werden geplant – und dann kommt der Vater nach einem Schlaganfall nicht mehr richtig auf die Beine, die Mutter beginnt, Dinge zu vergessen oder der Ehepartner erkrankt schwer. Und plötzlich ist er wieder da, der Spagat zwischen Fürsorge, Selbstaufgabe und materieller Notwendigkeit. Und das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.

Auf mehrere Schultern verteilen

Die Zahl der zu Hause gepflegten Menschen nimmt immer weiter zu. Aktuell sind es rund 200 000 Menschen, denen Töchter, Söhne und Ehepartner unter die Arme greifen. Das liegt zum einen an der demografischen Entwicklung und zum anderen daran, dass Gesellschaft und Politik der ambulanten gegenüber der stationären Pflege den Vorzug geben. Das spüren auch die Unternehmen, da eine  steigende Zahl von Mitarbeitern damit konfrontiert ist. «Das ist erstmal eine grosse Herausforderung für die Betroffenen», sagt Karin van Holten, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Careum Forschung, dem Forschungsinstitut der Kalaidos Fachhochschule Gesundheit. Seit 2007 führt Careum Forschung unter dem Titel «work & care» verschiedene Forschungs- und Praxisprojekte durch, die sich alle mit der Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenpflege beschäftigen.

Die Untersuchungen zeigen deutlich, dass es gravierende Unterschiede zum anderen grossen Thema, der Kinderbetreuung, gibt. Das fängt schon bei der Wahrnehmung an. «Pflege ist im Gegensatz zum Kinderkriegen kein positives Thema», sagt van Holten. Themen wie Tod, Krankheit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit sind negativ besetzt. «Darüber spricht niemand gern; damit beschäftigt man sich auch erst, wenn man muss», sagt die Wissenschaftlerin. Dies führt dazu, dass viele den richtigen Moment verpassen, sich gemeinsam mit ihren Angehörigen Lösungen für den Fall der Fälle zu überlegen. Denn der Weg zur Betreuung und Pflege verläuft meist schleichend. Die Eltern benötigen immer häufiger kleine Hilfen im Haushalt, die Tochter übernimmt erst den wöchentlichen Einkauf, der Sohn kümmert sich um den Garten. Dann kommt die Wäsche dazu, das Kochen, vielleicht auch Hilfe bei der Körperpflege. Was mit kleinen Gesten beginnt, wächst sich zur Übernahme vieler alltäglicher Tätigkeiten aus und irgendwann wächst den Angehörigen im schlimmsten Fall alles über den Kopf.  «Die Tendenz geht ja klar zu weniger Selbständigkeit und mehr Hilfsbedürftigkeit», sagt van Holten. Dazu käme, dass man meist nicht wisse, was einen erwarte. Oder dass der Pflegefall durch Krankheit plötzlich auftrete. «Auf Kinder kann man sich vorbereiten, bei Alter, Behinderung oder Krankheit ist nichts wirklich planbar», sagt die Wissenschaftlerin. Die unvorhersehbaren Veränderungen und die ständigen Hochs und Tiefs erfordern von den Angehörigen ein hohes Mass an Flexibilität.

Um sich nicht völlig zu verausgaben und das eigene Leben und den Beruf nicht zu vernachlässigen, sollten die Betroffenen zudem frühzeitig auf ein breites Netzwerk setzen. «Pflege sollte auf mehreren Schultern verteilt sein», rät van Holten. Neben weiteren Familienmitgliedern bieten Spitex, Gesundheitsligen und auch die Kirchen unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten. Es gibt zwar viele Angebote, aber nicht immer passt jedes auf jeden und sie überhaupt zu finden, ist eine Aufgabe für sich. «Vieles ist kantonal unterschiedlich geregelt», erklärt van Holten. Dies gilt auch für die finanzielle Unterstützung. Da es keine zentrale Anlaufstelle gibt, rät sie den Betroffenen, einen Ansprechpartner auf Gemeindeebene zu suchen, der sich damit auskennt.

Hilfe vom Arbeitgeber

Viele unterschätzen den organisatorischen Aufwand, der neben der eigentlichen Pflegeleistung anfällt. Da es keine gesetzlichen Regelungen für längere Abwesenheit am Arbeitsplatz wie beim Mutterschutz oder bei der Elternzeit gibt, müssen sich die Betroffenen alles selbst erarbeiten und zusammensuchen.

Hier sieht van Holten auch eine gute Möglichkeit, wie Arbeitgeber ihre Mitarbeiter effektiv und kostengünstig unterstützen können. Es sei schon eine grosse Erleichterung, wenn es innerhalb des Betriebs jemanden gäbe, der wisse, wo welche Leistungen beantragt werden können und welche Hilfe es gebe. Die organisatorische Zusatzbelastung der betroffenen Mitarbeiter wird sofort gesenkt und sie fühlen sich ernst genommen und unterstützt. Das nütze auch dem Unternehmen, denn dann seien ganz andere Lösungen möglich.

Den Betroffenen rät sie, aktiv das Gespräch mit den Vorgesetzten, der Personalabteilung und auch den Kollegen zu suchen. Die meisten würden verständnisvoll reagieren. Und die Konsequenzen für die eigene Berufstätigkeit seien oft auch gar nicht so gross wie anfangs befürchtet. Die Untersuchungen von Careum Forschung haben zum Beispiel ergeben, dass die wenigsten Betroffenen ihre Arbeitszeit dauerhaft reduzieren. Die finanziellen Einbussen im Alltag oder auch bei der späteren Rente machten dies oft gar nicht möglich. Eine vorübergehende Stundenreduzierung, ein flexibles Arbeitszeitkonto oder kurzfristige Auszeiten würden dagegen von den meisten begrüsst. Und die wenigsten Unternehmen haben damit ein Problem, wenn eine gute Kommunikation mit allen Beteiligten stattfindet.

Mit der Personalabteilung oder den Vorgesetzten gibt es da meist weniger Probleme als mit den Kollegen. Denn wenn die immer kurzfristig einspringen müssen, kommt es irgendwann zu Verdruss. Van Holten rät deshalb zu einer individualisierten Personalführung, die alle berücksichtigt. Mitarbeitende mit Angehörigenaufgaben, Eltern, Menschen mit intensiven Hobbys: Wenn jeder seine Bedürfnisse äussern könne und die anderen Teammitglieder versuchen, sie zu berücksichtigen, verschwinde viel Zündstoff.  Wenn also eine gute Diskurskultur herrscht, in der auch über Irritationen gesprochen wird und jeder sich mit seinen Bedürfnissen ernst genommen fühlt, dann ist die Bereitschaft eines jeden Einzelnen höher, sein Team zu unterstützen.

Wichtig ist Karin van Holten auch ein Aspekt, der oft übersehen wird und den sich Betroffene ebenso wie die Arbeitgeber klar machen sollten: Angehörige sind meist engagierte, anpassungsfähige und stressresistente Menschen. «Man sollte sie nicht nur als massiv belastet ansehen, sondern sich die positiven Eigenschaften vor Augen führen, die diese Menschen oft auszeichnen», sagt sie. Denn die seien in den Betrieben von grossem Nutzen. «Das hat eine enorme qualitative Komponente, die nach der Pflegezeit im Beruf genutzt werden kann», sagt sie.

Weiterführende Informationen im Netz

Informationen und Materialien für Angehörige 
und Arbeitgeber: workandcare.ch
Übersicht der Ausgleichskassen: ausgleichskasse.ch
Für chronisch Kranke und deren Angehörige: evivo.ch
Fachstelle für Familien- und Erwerbsarbeit: und-online.ch
Netzwerk Beratung Beruf und Familie: plusplus.ch

 

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